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Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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verzweifelten »Jeder für sich allein« gewichen, dessen man sich anfangs noch geschämt hatte. Als dann der Strom ausgefallen war, hatten sich die Supermarktregale rasch geleert, und die Angst, die eigene Großzügigkeit könnte sich noch rächen, wuchs. Am Ende regierte das Gesetz des Stärkeren. Jede Gasflasche, jede Konservenbüchse wurde zu einem Objekt der Begierde und der Missgunst.
    Diese Erfahrung hatten die Abgewiesenen am eigenen Leib gemacht, als sie den Simmons, Nachbarn der Pollocks, geholfen hatten. Ihrer natürlichen Bereitschaft zu teilen gehorchend, hatten sie dem freundlichen Rentnerehepaar, das wie ein Musterbeispiel für guten Stil und gepflegte Umgangsformen wirkte, einige Päckchen Mehl, Reis und Nudeln überlassen. Zwei Tage später hatten die Simmons erneut vor ihrer Tür gestanden, diesmal allerdings viel fordernder. Andrew hatte sich eine diplomatische Bemerkung dahin gehend erlaubt, dass es geboten sei, mit den Vorräten sparsam umzugehen: Die Sachen, die die Simmons in zwei Tagen verschlungen hatten, mussten in ihrem Haus eine Woche lang sieben Personen ernähren – so groß war ihre Gruppe. Daraufhin hatte sich Mr Simmons aufgeregt und versucht, sich mit Gewalt Zutritt zum Haus zu verschaffen, indem er sie mit einer alten Sammlerpistole bedrohte, die unter anderen Umständen völlig deplatziert, ja geradezu lächerlich gewirkt hätte. Gus hatte rotgesehen und kurzen Prozess mit Simmons gemacht: Er hatte eine Kostprobe seiner Karatekünste gegeben, über die Gus’ Gefährten kaum weniger gestaunt hatten als der unverschämte Nachbar. Seither waren die Bewohner des Hauses am Bigtoe Square auf der Hut.
    Die Sirenen heulten immer noch. Der Lärm strapazierte die Ohren und mehr noch die Nerven.
    »Ich halte das nicht mehr aus«, jammerte Kukka und ließ sich an der Wand zu Boden gleiten. »Ich habe es ja so satt.«
    Sie zog sich ihren schmutzigen Pullover über die Knie und legte den Kopf darauf. Gus ging vom Fenster weg und setzte sich mitfühlend neben sie. In diesen Katastrophenzeiten kümmerten sich die Behörden nur noch um das Nötigste, und den Wetterdiensten war der Rat erteilt worden, überhaupt keine Vorhersagen mehr abzugeben. Doch die Tatsachen waren ernüchternd: Seit die Gruppe um Gus und Marie nach London zurückgekehrt war, hatte es jeden Tag geregnet. Nicht ein Sonnenstrahl, nicht ein Stückchen blauer Himmel. Nur das graue, kalte Wasser, das überall eindrang und seine schlammigen Spuren auf allem hinterließ, womit es in Berührung kam. Und so war die Stimmung im Haus am Bigtoe Square genau wie das Wetter: pechschwarz.
    »Uns ist kalt, wir haben nur Kerzenlicht, wir können uns nicht richtig waschen, und über kurz oder lang wird uns auch noch das Essen ausgehen«, fasste Kukka die Lage zusammen und ließ den Kopf wieder auf die Knie sinken.
    Eine schmutzige Haarsträhne löste sich aus dem zerzausten blonden Haarknoten in ihrem Nacken. Gus streckte die Hand aus, um sie ihr hinters Ohr zu streichen, überlegte es sich jedoch im letzten Augenblick anders und ließ es bleiben.
    »Es wird schon wieder werden«, murmelte er. »Das kann ja nicht ewig dauern.«
    Kukka blickte ihn von der Seite an.
    »Ist das neu, dieser realitätsferne Optimismus?«
    Gus erhob sich sofort.
    »Ist doch immer ein Vergnügen, jemanden wie dich zu trösten«, brummte er verärgert.
    »Wenn du mir wirklich helfen willst, dann tu irgendwas, damit ich meine Eltern wiederfinde!«, schimpfte Kukka.
    Gus wandte sich ab und ging zu Marie.
    »Launische Zicke!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
    Als sie das hörte, schrie Kukka wütend auf.
    »Du vergisst, dass auch Gus’ Eltern in Edefia sind«, wandte sich Virginia vorwurfsvoll an das Mädchen. »Wir alle haben geliebte Menschen dort, wir alle leiden darunter, du bist wahrlich nicht die Einzige, Kukka! Also mach nicht alles noch schlimmer, indem du uns mit deiner schlechten Laune auf die Nerven gehst.«
    Kukka schimpfte jetzt halblaut auf Schwedisch – ihrer Muttersprache – vor sich hin und verzog sich in eine Ecke. Marie griff Hilfe suchend nach Gus’ Hand. Nachdem das Gefühl von Oksas Gegenwart ihnen zunächst eine wunderbare Zuversicht eingeflößt hatte, ließ es sie jetzt umso verzweifelter zurück. Draußen hatte das Wasser inzwischen die oberste Stufe der Außentreppe erreicht, bald würde es den Flur überfluten. Die Lage war sehr ernst, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass eine Wende zum Besseren bevorstand.

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