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Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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dass seine Intuition richtig gewesen war: Dragomira würde zur Unendlichen Entität werden – zur obersten Alterslosen Fee, zu jener Fee, die das Gleichgewicht der beiden Welten verkörpern würde, wenn deren Herz geheilt wäre.
    »Es ist eine unendliche Ehre für mich, jenen helfen zu können, die mir so lieb und teuer sind«, sagte Dragomira leise.
    »Es ist viel mehr als das, Baba!«, rief Oksa. »Du wirst eine neue Zukunft für die ganze Menschheit verkörpern! Von dir wird alles abhängen, ist dir das klar?«
    Die Silhouette Dragomiras wurde mit einem Mal viel klarer als vorher, und Oksa war überzeugt, ihre Großmutter lächeln zu sehen. Eine Welle der Zärtlichkeit überwältigte sie und erfüllte ihren Geist mit einem unerschütterlichen Willen. Sie schwebte auf die Alterslose zu, die den Umhang ausgebreitet hielt, und ließ ihn sich um die Schultern legen. Der Stoff war weich wie Samt und dabei leicht wie Seide. Vor allem aber schien von jeder Faser eine Kraft auszugehen, eine übernatürliche Energie, die Oksa wie ein Stromschlag traf. Sie sah ihr bisheriges Leben in schnellen Bildern vor ihren Augen vorbeiziehen, von den unschuldigen, zartesten Momenten bis hin zu den schmerzhaftesten – Trennung, Verrat und Reue. Das letzte Bild von Marie Pollock, ihrer Mutter, allein auf dem eiskalten Wüstensand, entlockte ihr einen Klagelaut. Dann folgten die Erinnerungen an Gus und Tugdual, ihre unveränderliche Zuneigung zu dem einen und ihre fast hilflose Verliebtheit in den anderen, ihre Küsse, ihre Unsicherheiten. Schließlich überzogen schwarze Wolken, aus denen Blitze zuckten, die Erdkugel wenige Meter vor ihr, während ein fürchterliches Beben die Gläserne Säule bis in ihre Grundfesten erschütterte.
    »Zeigt mir, was ich tun soll!«, rief Oksa, den Blick auf das Wasser gerichtet, das rings um die Britischen Inseln anschwoll.
    Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, nahmen die Alterslosen sie in ihre Mitte und geleiteten sie zu der verdunkelten Erdkugel. Sie schlugen die Ärmel ihres Umhangs zurück und führten ihre Hand mitten in den Atlantischen Ozean. Oksa spürte, wie ihr Arm durch das eiskalte Wasser drang, dann, ohne jede Schwierigkeit, durch die Erdkruste. Einen Moment lang glaubte sie, sich an der glühenden Lava zu verbrennen, deren große Blasen ihr Angst machten. Doch ihre Hand glitt, geführt von den Feen, mühelos durch die Tiefen der Erde. Als sie schließlich den Arm bis zur Schulter in der Erdkugel vergraben hatte, stieß sie auf den Kern. Der entscheidende Augenblick war gekommen.
    »Was muss ich denn tun?«, fragte Oksa voller Furcht. »Wenn ich nun alles verkehrt mache! Helft mir!«
    »Nehmt es, Junge Huldvolle!«, hauchte eine der Feen. »Nehmt das Herz der beiden Welten in die Hand, und bringt es wieder ins Leben zurück!«
    Fest entschlossen, die Panik nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, gehorchte Oksa. Sie griff nach dem Kern und spürte ein schwaches Pochen. Dann fing sie instinktiv an, diesen Kern zu massieren.
    Seine Textur war unerwartet, schwammartig und elastisch, ungefähr so, wie sich Oksa ein echtes Herz vorstellte. Sie konzentrierte sich darauf, ihm mit gleichmäßigen Bewegungen die wunderbare Kraft einzuflößen, die sie in sich spürte. Die Wellen des Ozeans klatschten gegen ihre Schulter – in diesem Maßstab waren sie harmlos, doch für jene, die sich jetzt auf dem Meer befanden, waren sie sicherlich gefährlich. Die pechschwarzen Wolken zogen unmittelbar vor ihrem Gesicht vorbei. Sie pustete, um sie zu verjagen, merkte jedoch rasch, dass sie gar nichts gegen sie ausrichten konnte: Die Wolken gehorchten ihren eigenen Gesetzen. Aus einer von ihnen blitzte es, und genau die streifte ihren Nacken.
    »He!«, rief Oksa erschrocken und berührte mit ihrer freien Hand die Stelle, wo der winzige Blitz sie getroffen hatte.
    »Konzentriere dich, Oksa«, mahnte Dragomiras Stimme.
    Mit vor Anstrengung rotem Gesicht setzte die Junge Huldvolle ihre Wiederbelebungsmaßnahmen fort. In dem Maße, wie der Umhang aus jeder Faser seine unglaubliche Energie an sie abgab, übertrug Oksa all ihre Kraft und Zuversicht auf das kranke Herz. Stunden verstrichen, und ihr tat alles weh. Dragomira und die Alterslosen konnten nichts weiter tun, als ihr immer wieder Mut zuzusprechen, wenn sie vor purer Erschöpfung aufgeben wollte. Aber was noch schwerer wog als die körperliche Anstrengung war die Furcht, die Oksa befiel, wenn sie daran dachte, dass auf ihr allein die ganze Verantwortung
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