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Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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»sind meine Eltern nicht da?«
    »Abakum hat doch gesagt, dass es ihnen gut geht, das ist doch das Wichtigste, oder nicht?«, erwiderte Gus, während er sich aus ihrer Umarmung löste.
    Oksa konnte das wilde Durcheinander ihrer Gedanken kaum noch ertragen. Sie war kurz davor, auszurasten, weil Gus ein anderes Mädchen in den Armen hielt, nachdem sie tausend Gefahren auf sich genommen hatte, um hierherzugelangen, und obendrein ihre Mutter noch immer nicht aufgetaucht war.
    »Mama«, murmelte sie mit angsterfüllter Stimme.
    Diese Rückkehr nach Da-Draußen war wirklich eine einzige Katastrophe. Was würde denn noch alles passieren?
    »Oksa! Ich bin hier!«
    Als Oksa die geliebte Stimme hörte, unterdrückte sie einen Schrei und stürzte auf die Wohnzimmertür zu, dicht gefolgt von Pavel.

    Sein Entsetzen nicht zu zeigen, wenn einem Unerträgliches begegnet, gehört sicherlich zu den härtesten aller Prüfungen. Oksa hatte trotz ihres jungen Alters schon viele schreckliche Dinge mit ansehen müssen: wie Dragomira, ihre geliebte Großmutter, vor ihren Augen verschwunden war; wie der Durchscheinende ihrer Großcousine Zoé all ihre Liebesgefühle ausgesaugt hatte; die Ermordung von Ocious durch Orthon; und wie sich Tugdual Seite an Seite mit den Treubrüchigen davongemacht hatte. Aber ihre Mutter in diesem Zustand zu sehen – nein, das war mehr, als Oksa ertragen konnte.
    Abgesehen von ihrem sanften Blick und ihrer zärtlichen Stimme war Marie Pollock nicht wiederzuerkennen. Hätte sie nicht gesprochen, so hätte Oksa fast geglaubt, es handle sich um jemand anders. Ach, wäre es doch nur so gewesen …
    Eine alte Frau auf ihrem Totenbett. Das war der erste Gedanke, der ihr bei Maries Anblick durch den Kopf schoss. Die wächserne Haut spannte über ihren Wangenknochen, sodass man befürchtete, sie könnte bei der geringsten Bewegung zerreißen. Ihr ehemals glänzendes, volles Haar war nur mehr eine Handvoll grauer, strohiger Strähnen.
    Mit schier übermenschlicher Anstrengung streckte sie Oksa die Arme entgegen. Die Infusionsnadel verrutschte in der pergamentartigen Haut ihrer Armbeuge, und Marie verzog vor Schmerz das Gesicht. Doch sie ließ sich nicht beirren. Mühsam richtete sie sich auf, während Barbara McGraw herbeieilte, um sie mit Kissen zu stützen.
    Oksa wappnete sich innerlich und lief auf sie zu, doch als sie ihre Mutter in den Armen hielt, vergaß sie die vorstehenden Knochen, den Geruch der Medikamente, die dunklen Augenringe.
    Einen Augenblick später war auch Pavel bei ihnen. Auch er war starr vor Entsetzen.
    »Es war höchste Zeit, dass ihr zurückkommt«, murmelte Marie.
    Oksa hob den Kopf. Waren dies womöglich die letzten Worte ihrer Mutter? Waren sie gerade noch rechtzeitig gekommen, um … sie sterben zu sehen? Wie um diese furchtbare Vorstellung zu untermauern, schloss Marie die Augen.
    »Marie … Nein!«, schluchzte Pavel und nahm den Kopf seiner Frau in seine Hände. »Du darfst nicht gehen! Nicht jetzt!«
    Er küsste sie voller Inbrunst.
    »Wir müssen ihr die Medizin geben!«, schrie Oksa. »Abakum, schnell, du musst sie retten!«
    Der Feenmann kramte hastig in seiner Tasche, zog die Schatulle hervor und entnahm daraus eine Kugel von der Größe einer Murmel.
    »Halt durch, Mama!«, rief Oksa, während Abakum die Infusion abnahm. »Das ist Tochalis, das wird dich wieder gesund machen!«
    »Du hast sie gefunden?«, fragte Marie stammelnd.
    »Nicht ich, Mortimer«, sagte Oksa mit der ihr eigenen Ehrlichkeit.
    Keinem entging die plötzliche Furcht in Maries Augen. Sie machte eine abwehrende Geste, wodurch die Infusionsnadel endgültig herausrutschte. Blut floss auf das Bettlaken. »Nein, Abakum …«
    »Mortimer ist einer von uns, beruhige dich!«, erklärte Pavel rasch.
    »Er ist ein großes Risiko eingegangen, um die Tochalis im Unzugänglichen zu holen«, fügte Oksa beschwörend hinzu. Warum hatte sie nicht einfach den Mund gehalten? Der schlimme Zustand ihrer Mutter war die Folge der vergifteten Seife, die Zoé ihr auf Orthons Befehl geschenkt hatte. Was war da naheliegender, als eine erneute List des Treubrüchigen zu vermuten, diesmal mit seinem Sohn als Werkzeug?
    »Ich habe dieses Medikament selbst hergestellt«, sagte Abakum sanft. »Du brauchst absolut nichts zu befürchten, Marie.«
    Trotzdem sträubte sich Oksas Mutter. Mit letzter Kraft bäumte sie sich auf und sackte schließlich mit halb geschlossenen, glasigen Augen zusammen.
    »Sie stirbt!«, schrie Oksa. »Abakum,
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