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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Autoren: A Plichota
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treten. Er durchquerte ein Labyrinth aus Bäumen, die wie schwarze Säulen in den Himmel ragten. Je tiefer er sich in den Wald hineinwagte, umso dichter schien er zu werden. Um ihn her hob und senkte sich das Moos in einem sanften Rhythmus, als würde es atmen. Die Blätter der Bäume wiegten sich in einem eigenartigen Wind, der aus dem Laub selbst zu kommen und sich im Himmel zu verlieren schien. Doch sobald Gus stehen blieb, erstarrte alles wie auf einem Foto. Die Pflanzen verharrten in vollkommener Reglosigkeit: Man hätte meinen können, sie hielten den Atem an, um den Besucher besser beobachten zu können.
    »Allmählich leide ich unter Verfolgungswahn«, murmelte Gus vor sich hin. »Ist da irgendwer?«, fragte er mit unsicherer Stimme.
    Absolute Stille war die Antwort. Im Gegensatz dazu war alles, was sich im Inneren seines Körpers abspielte, so laut, dass es seine Angst noch zusätzlich schürte. Das Blut zirkulierte in seinen Adern mit der Lautstärke einer viel befahrenen Autobahn. Sein Herz hatte sich in eine riesige Pauke verwandelt, und seine Lungen pfiffen wie eine ungeheuer große Lokomotive. Sein leerer Magen gab plötzlich ein so dumpfes Grummeln von sich, dass es an fernes Donnergrollen erinnerte. Gus erschrak, so ungewohnt war dieser Lärm, der aus seinem Inneren kam.
    »Ist hier irgendwer?«, rief er noch mal. »Bitte, gebt mir doch Antwort!«
    Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken und legte sich hin. Der Untergrund war kuschelweich wie das Fell eines Tieres, doch trotz dieser Verlockung und obwohl er unendlich müde war, wagte Gus nicht, einzuschlafen.
    »Ich werde hier mutterseelenallein zugrunde gehen«, seufzte Gus bitter. »Als Allererstes vor Hunger«, fügte er hinzu und rieb sich den Bauch. »Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mal so enden würde. Das ist echt das Letzte.«
    Er blieb eine Weile auf dem Boden liegen und hing seinen quälenden Gedanken nach. Als er an seine Eltern dachte, stiegen ihm die Tränen in die Augen. Ob er sie je wiedersehen würde? Bestimmt waren sie verrückt vor Sorge um ihn! Und Oksa? Und die Rette-sich-wer-kann? Sie würden sicherlich alles daransetzen, ihn aus diesem Albtraum zu befreien. Also bloß nicht die Hoffnung verlieren! Instinktiv drückte er Oksas Tasche an sich, die er sich umgehängt hatte. Darin rührte sich etwas. Gus öffnete den Beutel, und das Wackelkrakeel – die persönliche und vor allem lebende Alarmsirene seiner treuen Freundin – schaute mit verdutzter Miene heraus.
    »Krakeel!«, rief Gus. »Wenn du wüsstest, wie gut das tut, dich zu sehen!«
    Das Wackelkrakeel kroch aus der Tasche, setzte sich hin und balancierte seinen kegelförmigen Körper aus.
    »Der Freund meiner Jungen Huldvollen ist äußerst liebenswert«, sagte es errötend.
    »Weißt du, wo wir sind?«
    »Eine Gewissheit kann geliefert werden: Wir befinden uns in Großbritannien, Junger Meister, in London. Stadtzentrum westliche Mitte, um genau zu sein, Bean Street, St.-Proximus-Schule, erster Stock, drittes Klassenzimmer von der Haupttreppe aus, nördliche Wand, Höhe ein Meter fünfzig über dem Boden, Entfernung zwei Meter fünfzehn westliche Ecke, sechs Meter zweiundvierzig östliche Ecke.«
    »Äh … ja«, murmelte Gus erstaunt. »Aber könntest du das vielleicht noch ein wenig präzisieren? Wo genau sind wir?«, fragte er und deutete auf den seltsamen Wald, der sie umgab.
    »Wir sind in dem Gemälde, Junger Meister!«, antwortete das Wackelkrakeel und schaukelte dabei hin und her. »Wir sind in dem Gemälde, das achtunddreißig Zentimeter hoch und fünfundzwanzig breit ist! Noch präziser kann ich es nicht sagen, verzeiht mir. Ich kann keine Himmelsrichtung ausmachen, keinerlei Höhe und keinerlei Tiefe im Verhältnis zum Meeresspiegel. Entfernung, Zeit und Maßeinheiten existieren nicht, aber die Atmosphäre enthält Sauerstoff …«
    »Ja, das habe ich gemerkt«, brummte Gus.
    »… und es existieren mehrere übereinandergelagerte Ebenen. Nein«, verbesserte sich das Wackelkrakeel, »sie sind nicht übereinandergelagert, sondern ineinander verschachtelt.«
    »Wie diese russischen Matroschka-Puppen?«
    Das kleine Geschöpf nickte und schlüpfte dann wieder in die Tasche zurück. Gus, verunsicherter und verzweifelter denn je, schwieg und blickte verloren in das stumme, dunkle Dickicht des Waldes hinein.
    »Bleib stark, mein Junge, lass dich nicht entmutigen.«
    Gus erschrak und hob den Kopf. Sein Blick schweifte über den Boden, in der Erwartung, den
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