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Odice

Odice

Titel: Odice
Autoren: Anais Goutier
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entsorgen.
    Nachdem sie die zweite Seite ausgefüllt hatte und ihre Kreuzchen betrachtete, fiel ihr auf, wie konventionell und konservativ sich ihr Sexualverhalten las, wenn man es auf diese Art Ankreuztest herunterbrach.
    Die Fragen auf Seite Drei behandelte sie, als habe sie einen Termin in einer neuen Arztpraxis. Es stellte sich heraus, dass sie sich auf dieser psychologischen Ebene als nicht besonders zimperlich einschätzte. Sie litt zwar unter einer latenten Platzangst, aber weder Dunkelheit, noch Blut ließen sie kollabieren und für besonders schmerzempfindlich hielt sie sich auch nicht.
    Dann wandte sie sich der letzten Seite zu. Odice ermahnte sich, die Fragen abstrakt und als fiktiv zu betrachten, doch auch so brachte sie kein Kreuzchen zu Papier.
    Wenn es sich um ein einmaliges sexuelles Spiel mit Eric handeln würde, worauf würde ich mich einlassen? fragte sie sich selbst. Nach langem Zögern kreuzte sie schließlich den oralen und vaginalen Verkehr an und fand sich außerdem bereit, sich mit der flachen Hand schlagen zu lassen. Das bedeutete drei Kreuzchen auf einem Bogen mit über zwanzig Fragen.
    Odice verstaute den Fragebogen wieder ganz hinten im Regal.
    Den ganzen Samstag über war sie mit anderen Dingen beschäftigt, doch am Abend, nachdem sie im Spätprogramm eines Privatsenders zufällig in 9 ½ Wochen hineingezappt und dazu zwei Gläser Rotwein getrunken hatte, fühlte sie sich in der richtigen Stimmung, den Fragebogen noch einmal hervorzukramen.
    Diesmal entschied sie alles anzukreuzen, was ihr irgendwie vorstellbar erschien und dabei keinen Gedanken an die praktische Umsetzung zu verschwenden. Das Resultat waren mehr angekreuzte als nicht angekreuzte Fragen. Übrig blieben nur solche, die in der einen oder anderen Weise mit der Herstellung von Öffentlichkeit oder mit irreparablen Beeinträchtigungen zu tun hatten. Sie würde ihren Körper keinen Dritten überlassen und sie würde sich weder piercen noch tätowieren noch sonst wie zeichnen lassen.
    Es dauerte eine weitere Woche, bis sich Odice überwinden konnte, den Umschlag zur Post zu bringen.
    Dann kam der Vertrag.
    Als erstes fiel Odice eine bordeauxrote Visitenkarte aus dickem seidigen Bütten in die Hände, auf die mit einem breiten Füllfederhalter nur ein einziges Wort geschrieben stand: M’aidez . Was sollte das nun wieder bedeuten? Tatsächlich ein Hilfeschrei? Die Einleitung für ein Spiel? Ein literarischer Verweis? Spontan musste Odice an die kryptische Postkarte denken, die der Waisenjunge Bosse in Astrid Lindgrens poetischem Kinderbuch Mio mein Mio von seinem verschollenen Vater erhielt. Dann kam ihr Hermann Hesses Harry Haller in den Sinn, der durch eine Kartonmünze ins Magische Theater geführt wurde – Nur für Verrückte – Eintritt kostet den Verstand . Und sie dachte an die ebenso ominöse Fragekarte, durch die Jostein Gaarders Heldin Sofie in die Welt der Philosophie eingeführt wurde. Wer bist du? Eine Frage, die sich Odice immer wieder gestellt hatte, seit sie von den Gebrüdern de Lautréamont und ihrem besonderen Gewerbe gehört und sich wider alle Vernunft auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Mal hatte sie diese Frage mit empörter, ja entrüsteter Intonation an sich selbst gerichtet, mal voller Verwunderung und ganz selten sogar mit bewunderndem Stolz und dem autokommunikativen Beisatz Das hätte ich dir gar nicht zugetraut .
    Alle drei Karten waren für die Protagonisten des jeweiligen Romans gewissermaßen Eintrittskarten, Schlüssel in eine ihnen bis dato verborgene Welt; eine Welt voller Magie und voller Geheimnisse. Würde es eine ebensolch fremde, phantastische Welt sein, in die die Brüder de Lautréamont sie einführen würden? Eine Welt voller Fantasie und Lust? Oder würde sich das Ganze als schaler Budenzauber entpuppen? Sie würde sich überraschen lassen müssen.
    Hinter der kleinen roten Karte lag ein handschriftliches Anschreiben.

    Chère Mademoiselle,
    beiliegend finden Sie den Vertrag, dessen Unterzeichnung Sie für einen Zeitraum von zwei Wochen zu unserem Eigentum werden lässt. Eine entsprechende Terminabsprache sowie die weiteren Instruktionen bezüglich der Kleiderordnung und anderer Details werden nach Unterzeichnung telefonisch erfolgen.

    Hochachtungsvoll
    Eric und Julien de Lautréamont

    Mit zitternden Fingern zog Odice den Vertrag aus dem Umschlag, von dem sie doch wusste, dass er keinerlei juristische Relevanz hatte und der sie doch am ganzen Körper erbeben ließ.

    Hiermit
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