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Oblomow

Oblomow

Titel: Oblomow
Autoren: Iwan Gontscharow
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angesammelt hatte, mitteilen; er würde das verstehen, sie konnte es aber nicht sagen, stürzte nur zu Oljga hin, schmiegte ihre Lippen an deren Hände und brach in einen Strom so heißer Tränen aus, daß auch Oljga unwillkürlich mit ihr zu weinen begann und Andrej erregt und eilig das Zimmer verließ. Sie alle waren durch eine allgemeine Sympathie und durch die Erinnerung an die kristallreine Seele des Verstorbenen verbunden. Sie baten sie, mit ihnen aufs Gut zu reisen und mit ihnen zusammen neben Andrjuscha zu leben – sie antwortete aber immer nur das eine: »Man muß dort sterben, wo man geboren ist und wo man das ganze Leben verbracht hat.« Stolz berichtete ihr vergeblich über die Verwaltung des Gutes und schickte ihr die ihr zukommenden Einkünfte; sie gab alles zurück und bat, es für Andrjuscha aufzuheben. »Das gehört ihm und nicht mir«, wiederholte sie eigensinnig, »er wird das brauchen, er ist ein Edelmann, und ich werde mein Leben auch so fristen.«
Elftes Kapitel
    Eines Tages um die Mittagsstunde schritten über das Holztrottoir der Wiborgsakastraße zwei Herren; hinter ihnen fuhr langsam ein Wagen. Der eine dieser Herren war Stolz, der zweite sein Freund, ein Schriftsteller von ziemlicher Leibesfülle, mit apathischem Gesicht und sinnenden, gleichsam schläfrigen Augen. Sie erreichten die Kirche; die Messe war zu Ende, und die Menge strömte auf die Straße hinaus; allen voran die Bettler, die eine große, bunt zusammengewürfelte Gruppe bildeten.
    »Ich möchte wissen, woher so viele Bettler kommen«, sagte der Schriftsteller, die Menge anblickend.
    »Wieso woher? Sie kriechen aus ihren Höhlen und Winkeln hervor.«
    »Ich meine das nicht so«, entgegnete der Schriftsteller, »ich möchte wissen: wie man zu einem Bettler werden und sich dieser Gesellschaftsklasse anreihen kann? Ob das wohl plötzlich oder allmählich, aufrichtig oder heuchlerisch geschieht ...«
    »Wozu brauchst du das? Willst du vielleicht ›Mystères de Pétersbourg‹ schreiben?«
    »Vielleicht ...« sagte der Schriftsteller träge gähnend.
    »Hier hast du eine gute Gelegenheit; frage den er sten besten, er verkauft dir für einen Rubel seine ganze Geschichte, notiere sie dir dann und verkaufe sie mit Gewinn wieder. Hier ist ein alter, ein typischer und ich glaube ganz normaler Bettler. He, Alter! Komm her!«
    Der Alte wandte sich auf ihren Ruf um, zog den Hut und trat an sie heran.
    »Gütige Herrschaften!« krächzte er, »helft einem armen, in dreißig Kämpfen verwundeten Krieger ...«
    »Sachar!« sagte Stolz verwundert, »bist du es?«
    Sachar verstummte plötzlich, schützte sich die Augen mit der Hand vor der Sonne und blickte Stolz starr an.
    »Verzeihen Sie, Euer Wohlgeboren, ich erkenne Sie nicht ... ich bin ganz erblindet!«
    »Hast du Stolz, den Freund deines Herrn, vergessen?« warf ihm Stolz vor.
    »Ach, ach, Väterchen, Andrej Iwanitsch! Meine Augen sehen nichts mehr! Väterchen!«
    Er lief hin und her, haschte nach Stolz' Hand und küßte, da er sie nicht fangen konnte, seinen Rockschoß.
    »Gott hat mich elenden Hund eine solche Freude erleben lassen ...« brüllte er zwischen Lachen und Weinen. Sein Gesicht war von der Stirne bis zum Kinn gleichsam mit einem feuerroten Siegel gezeichnet. Die Nase hatte außerdem eine bläuliche Tönung angenommen. Sein Kopf war ganz kahl; der Backenbart war dicht wie früher, er war aber ganz zerzaust und wirr wie Filz, und in jede seiner Hälften schien ein Schneeklumpen gelegt worden zu sein. Er trug einen alten, ganz verblaßten Überzieher, dem ein Schoß fehlte; an den Füßen hatte er nichts als alte, schiefgetretene Galoschen; in den Händen hielt er eine ganz abgetragene Pelzmütze.
    »Ach, du lieber Gott! Welche Gnade hast du mir am heutigen Feiertag erwiesen ...«
    »Warum siehst du so aus? Was ist geschehen? Schämst du dich nicht?« fragte Stolz streng.
    »Ach, Väterchen Andrej Iwanitsch! Was soll ich tun?« begann Sachar schwer seufzend. »Wovon soll ich mich nähren? Als Anissja noch am Leben war, habe ich mich nicht so herumgetrieben, da habe ich mein Stück Brot gehabt; als sie aber im Cholerajahr gestorben ist – Gott habe sie selig! hat mich der Bruder von der Gnädigen nicht länger behalten wollen, er hat mich einen Müßiggänger genannt, und Michej Andreitsch Tarantjew hat im Vorübergehen immer versucht, mich von rückwärts mit dem Fuß zu stoßen; das war nicht zu ertragen! Wieviel Vorwürfe ich zu schlucken hatte! Wissen Sie, gnädiger Herr,
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