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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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daran erinnern, dass ich kaum atmen konnte, als ich mich auf der hinteren Veranda versteckte. Im einen Moment stand ich noch am Kühlschrank, im nächsten schlug mein Herz so heftig, dass ich glaubte, es würde gleich aussetzen. Ich zitterte am ganzen Körper. Das Küchenfenster befand sich hinter mir, aber ich wagte es nicht, hindurchzuschauen. Ich hatte meine tote Mutter gesehen, und nun hatte ich auch noch ihre Stimme gehört. Verletzungen hatte ich mir schon öfter zugezogen, aber jetzt überlegte ich ernsthaft, ob in meinem Kopf etwas kaputtgegangen war.
    Ich rang nach Atem und starrte hinunter auf den Rasen. Als Kinder hatten wir dieses kleine Stück Rasen immer hochtrabend als »Garten« bezeichnet. Ich überlegte mir gerade, ob ich zu irgendwelchen Nachbarn laufen sollte, als die Küchentür aufging.
    Und meine Mutter herauskam.
    Meine Mutter.
    Sie stand hier auf der Veranda.
    Sie sah mich an.
    Und sagte: »Was machst du denn hier draußen? Es ist kalt.«
     
     
    Tja, ich weiß nicht, ob ich diesen Sprung erklären kann. Es kam mir vor, als hätte ich diesen Planeten verlassen. Man meint, über alles Bescheid zu wissen, aber dann passiert so etwas. Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Entscheidung zu fällen. Ich sah meine Mutter vor mir stehen, ganz normal und lebendig. Sie sagte noch einmal: »Charley?« Nur sie hatte mich jemals so genannt.
    Halluzinierte ich? Sollte ich auf sie zugehen? Würde sie sich auflösen wie eine Luftblase? Ganz ehrlich, ich war mir nicht sicher, ob meine Gliedmaßen mir noch gehorchen würden.
    »Charley? Was ist denn passiert? Du bist ja verletzt.« Jetzt trug sie dunkelblaue Hosen und einen weißen Pullover – sie schien immer angezogen zu sein, auch so früh am Morgen – und sah kein bisschen älter aus als bei meiner letzten Begegnung mit ihr an ihrem neunundsiebzigsten Geburtstag. Sie trug diese Brille mit dem roten Gestell, die sie damals geschenkt bekommen hatte. Jetzt wendete sie die Handflächen nach oben und bedeutete mir mit dem Blick, ihr zu folgen, und ich weiß nicht, diese Brille, ihre Haut, ihre Haare, die Art, wie sie durch die Hintertür auf die Veranda trat, was sie immer getan hatte, wenn ich Tennisbälle vom Dach warf – irgendetwas in mir begann zu schmelzen, als strahle ihr Gesicht Hitze aus. Dieses schmelzende Gefühl breitete sich in meinem Rücken aus, dann in meinen Beinen. Und dann brach etwas entzwei. Ich hörte es förmlich krachen: die Barriere zwischen Glauben und Zweifel.
    Ich gab nach.
    Verließ diesen Planeten.
    »Charley?«, fragte sie. »Was ist los?«
    Und ich tat, was wohl jeder getan hätte.
    Ich fiel meiner Mutter um den Hals und ließ sie nicht mehr los.

Als meine Mutter sich für mich einsetzte
    Ich bin acht Jahre alt. In der Schule bekomme ich eine Hausaufgabe: Am nächsten Tag soll ich der Klasse erklären, wie ein Echo entsteht.
    Nach der Schule bin ich im Laden meines Vaters und frage ihn: »Wie entsteht ein Echo?« Er steht mit Klemmbrett und Stift vor einem Regal und nimmt die Bestände auf.
    »Weiß ich nicht, Chick. Ist so was wie ein Querschläger.«
    »Kommt das nicht in Bergen vor?«
    »Hm?«, sagt er und zählt Flaschen.
    »Warst du im Krieg nicht in den Bergen?«
    Er wirft mir einen unwilligen Blick zu. »Wieso willst du das wissen?«
    Und er blickt wieder auf sein Klemmbrett.
    Abends frage ich meine Mutter. Sie holt das Lexikon, und wir setzen uns ins Wohnzimmer.
    »Das soll er gefälligst allein machen«, knurrt mein Vater.
    »Len«, erwidert meine Mutter, »es ist nicht verboten, dass ich ihm helfe.«
    Eine Stunde lang übt sie mit mir. Ich stelle mich vor sie, um meinen Text aufzusagen
    »Wie entsteht ein Echo?«, fragt sie.
    »Durch Reflexion des Schalls«, antworte ich.
    »Was ist dazu notwendig?«,
    »Ein Hindernis, an dem der Schall abprallt.«
    »Wann kann man ein Echo hören?«
    »Wenn es still ist.«
    Sie lächelt. »Gut.« Dann sagt sie: »Echo«, legt die Hand vor den Mund und murmelt: »Echo, Echo, Echo.«
    Meine Schwester, die uns zugeschaut hat, deutet auf meine Mutter und ruft: »Das ist Mami, die da redet! Ich seh’s ganz genau!«
    Mein Vater schaltet den Fernseher ein.
    »Kolossale Zeitverschwendung«, knurrt er.

Die Melodie klingt plötzlich anders
    D amals gab es einen Hit »This Could Be the Start of Something Big«, eine schnelle Nummer, die meist von einem Sänger im Smoking mit großem Orchester vorgetragen wurde. Der Text lautete folgendermaßen:
    You’re walkin’ along the street, or
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