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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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nicht geben, das ich mir ausgesucht hatte.«
    »Welche Dame?«
    »Die Büchereidame.«
    Meine Mutter stellt den Motor ab.
    »Wieso wollte sie es dir nicht geben?«
    »Sie sagte, es sei zu schwer.«
    »Was sei zu schwer?«
    »Das Buch.«
    Meine Mutter zerrt mich aus dem Auto und marschiert mit mir zurück in die Bücherei und zur Ausleihe.
    »Ich bin Mrs. Benetto. Das ist mein Sohn Charley. Haben Sie ihm gesagt, dass ein bestimmtes Buch zu schwer für ihn sei?«
    Die Bibliothekarin, die wesentlich älter ist als meine Mutter, richtet sich pikiert auf. Ich wundere mich über den Tonfall meiner Mutter; normalerweise spricht sie viel respektvoller mit älteren Menschen.
    »Er wollte 20 000 Meilen unter dem Meer von Jules Verne ausleihen«, sagt die Bibliothekarin und fasst an ihre Brille. »Dafür ist er noch zu klein. Schauen Sie ihn doch an.«
    Ich senke den Kopf. Schau dich doch nur an.
    »Wo ist das Buch?«, sagt meine Mutter.
    »Wie bitte?«
    »Wo ist das Buch?«
    Die Frau greift hinter sich ins Regal und legt das Buch geräuschvoll auf die Theke.
    Meine Mutter nimmt es und drückt es mir in den Arm.
    »Sagen Sie nie wieder einem Kind, dass etwas zu schwer für es ist«, faucht sie die Bibliothekarin an. »Und niemals – NIEMALS – diesem Kind.«
    Und im nächsten Moment werde ich zur Tür rausgezerrt und umklammere dabei meinen Jules Verne. Ich fühle mich, als hätten meine Mutter und ich gerade eine Bank ausgeraubt, und frage mich beunruhigt, ob wir womöglich verhaftet werden.

Als ich meine Mutter im Stich ließ
    Wir sitzen am Tisch. Meine Mutter trägt das Essen auf. Überbackene ziti mit Fleischsoße.
    »Sie sind immer noch nicht richtig zubereitet«, sagt mein Vater.
    »Nicht schon wieder«, erwidert meine Mutter.
    »Nicht schon wieder«, wiederholt meine Schwester und stochert mit ihrer Gabel in ihrem Mund herum.
    »Du wirst dich stechen«, sagt meine Mutter und greift nach der Hand meiner Schwester.
    »Es liegt am Käse oder am Öl«, sagt mein Vater und blickt angewidert auf sein Essen.
    »Ich habe es schon auf zehn unterschiedliche Arten probiert«, sagt meine Mutter.
    »Nun übertreib nicht, Posey. Ist es so viel verlangt, wenn du etwas kochen sollst, das ich essen kann?«
    »Du kannst sie nicht essen? Sie sind ungenießbar?«
    »Großer Gott«, stöhnt er. »Brauche ich so was?«
    Meine Mutter wendet den Blick ab. »Nein, das brauchst du nicht«, sagt sie und schaufelt wütend eine Portion auf meinen Teller. »Aber ich brauche das, ja? Ich brauche Streit. Iss, Charley.«
    »Ich will aber nicht so viel«, sage ich.
    »Du isst, was ich dir gebe«, faucht sie.
    »Es ist aber zu viel!«
    »Mami«, sagt meine Schwester.
    »Ich sage nur, Posey, dass du sie hinkriegst, wenn ich dich darum bitte. Das ist alles. Ich habe dir schon tausendmal gesagt, warum sie so nicht schmecken. Wenn die Zubereitung nicht stimmt, stimmt sie nun mal nicht. Willst du, dass ich lüge, nur damit du zufrieden bist?«
    »Mami«, sagt meine Schwester und fuchtelt mit ihrer Gabel herum.
    »Ach«, faucht meine Mutter und greift nach der Gabel meiner Schwester. »Lass das, Roberta. Weißt du, was, Len? Mach sie beim nächsten Mal selbst. Du und diese italienischen Gerichte. Iss, Charley!«
    Mein Vater verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf. »Immer wieder dasselbe«, knurrt er. Ich beobachte ihn. Er merkt es. Ich stecke mir rasch eine Gabel ziti in den Mund. Er weist mit dem Kinn aufs Essen.
    »Was hältst du von den ziti , die deine Mutter zubereitet hat?«, fragt er mich.
    Ich kaue. Ich schlucke. Ich schaue meinen Vater an, dann meine Mutter. Sie lässt resigniert die Schultern hängen. Nun warten beide.
    »Sie schmecken nicht«, murmle ich und schaue zu meinem Vater.
    Er schnaubt und wirft meiner Mutter einen bösen Blick zu.
    »Sogar der Kleine merkt es«, sagt er.

Ein Neuanfang
    K annst du den ganzen Tag bleiben?«, fragte meine Mutter.
    Sie stand am Herd und verrührte Eier mit einem Plastikspatel. Der Toast war schon fertig, und auf dem Tisch standen Butter und eine Kanne Kaffee. Ich sank auf einen Stuhl. Ich fühlte mich immer noch benommen, konnte nicht richtig schlucken und hatte das Gefühl, dass alles zerplatzen würde, wenn ich mich zu schnell bewegte. Sie hatte sich eine Schürze umgebunden und benahm sich, als sei dies ein ganz normaler Tag, an dem ich ihr einen Überraschungsbesuch abstattete, und nun machte sie mir Frühstück.
    »Und, kannst du, Charley?«, fragte sie. »Den ganzen Tag mit deiner Mutter
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