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Nur ein Hauch von dir

Nur ein Hauch von dir

Titel: Nur ein Hauch von dir
Autoren: S. C. Ransom
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liebten es, die jüngeren Schüler im Bus mit nachsichtigem Blick zu betrachten, erschraken allerdings gelegentlich, wenn uns klarwurde, dass wir uns gerade noch ganz genauso benommen hatten.
    Josh zum Beispiel, der jetzt achtzehn und im letzten Schuljahr war, hatte mich in den letzten sechs Jahren im Bus total ignoriert. Doch auch das hatte sich in den letzten Monaten geändert, als er und ein paar seiner Freunde anfingen, sich für meine Freundinnen zu interessieren, und ab und zu erkannten sie sogar meine Existenz an.
    Endlich kam der Bus, und nun war Zeit für eine ungestörte Unterhaltung mit Grace. Ich wollte ihr gerade von meinen seltsamen Erlebnissen erzählen, als Melissa sich in den Sitz vor uns fallen ließ und damit anfing, Grace wegen Jack auszufragen. Die Buschtrommeln hatten offenbar Überstunden gemacht. Ich beschloss, dass ich warten konnte. Grace und ich konnten auch noch bei unserem Tagesausflug nach London miteinander reden.
    Dieser Tagesausflug war für all diejenigen organisiert worden, die in der Kunst- AG waren. Thema dieses Jahr war die Kunst in öffentlichen Gebäuden, und heute war die St. Paul’s Cathedral dran. Mein besonderes Interesse galt den geschnitzten und in Stein gehauenen Figuren und Gesichtern, und nachdem ich für meine Begriffe gründlich im Internet recherchiert hatte, wollte ich die Gestalten abzeichnen, die das Grab des berühmten Feldmarschalls Wellington schmückten. Blöderweise hatte ich nicht genug recherchiert und fand etwas zu spät heraus, dass all die Engel ganz oben auf dem gewaltigen Monument hockten. Ich hatte also eine ziemlich harte Praxisstunde in perspektivischem Zeichnen vor mir.
    Eine unserer Kunstlehrerinnen fuhr uns im Minibus der Schule nach London. Es war eine ziemlich gedämpft wirkende Gruppe, da wir alle am Abend zuvor gefeiert hatten, und mindestens zwei der Mädchen waren erst echt spät ins Bett gekommen. Unglücklicherweise war Mrs Bell eine überraschend aggressive Fahrerin, und einige von uns sahen gar nicht gut aus, während der Bus durch das Einbahnstraßensystem südlich der Themse fetzte. Einen Moment lang war ich mir sicher, dass Melissa sich gleich übergeben musste. Sie war arg blass, und jemand gab ihr stillschweigend eine Plastiktüte und machte ein Fenster auf. Niemand traute sich, Mrs Bell zu bitten, etwas langsamer zu fahren.
    Schließlich kamen wir dann doch heil in der City an, wo die große Kuppel der Kathedrale es immer noch schafft, die viel höheren Geschäftshäuser in der Nähe zu beherrschen. Das mächtige weiße Steingebäude, erst kürzlich vom Londoner Ruß der Jahrhunderte befreit, schien sanft im Schein der Sonne zu glühen. Die beiden großen Türme, die das Westportal flankieren, erschienen klein angesichts der blassgrauen Kuppel, die sich über der Mitte des Bauwerks erhebt. Als wir Ludgate Hill rauffuhren, konnte ich sehen, wie das Sonnenlicht die Vergoldungen oben auf den Türmen glänzen ließ und das Geländer der Goldenen Galerie oben auf der Kuppel erfasste.
    Ich mochte St. Paul’s. Als Kind war ich regelmäßig hier gewesen. Meine Eltern schwärmten vom Ausblick über London, und alle Leute, die uns besuchten, mussten mitkommen und ihn bewundern. Wenn man von oben nach Osten blickt, kann man den Tower und die Tower Bridge sehen, eingebettet in die großen ebenmäßigen Gebäude der City. Die Hügel von Hampstead und Highgate ragen im Norden auf, und wenn das Wetter gut genug ist, kann man weit im Südwesten den Richmond Park sehen. Es ist ein anstrengender Weg nach oben zur Goldenen Galerie, der höchsten Stelle, die Besucher betreten können. Zweihundert Stufen, aber es lohnt sich. Ich war schon immer von der Konstruktion der Kuppel fasziniert mit ihrer inneren gitterartigen Holzkonstruktion, durch die die Stufen nach oben führen. Ich musste nur vorsichtig sein und durfte nicht zu oft nach unten blicken, da es an einigen Stellen schwindelerregend steil abwärtsgeht. Am schlimmsten aber war für mich das Sichtfenster ganz oben, durch das man auf die winzig wirkenden Menschen hundert Meter direkt unter seinen Füßen gucken kann. Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich an den Höhenunterschied dachte, und ich fragte mich oft, ob die Leute mich so weit über sich ebenfalls sehen konnten. Doch heute würde ich keine Chance haben, bis ganz nach oben zu steigen, dafür hatte ich zu viel zu tun.
     
    In der Kathedrale war es kühl und schummerig – vor allem im Kontrast zum grellen Sonnenschein und
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