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Null

Null

Titel: Null
Autoren: Adam Fawer
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hatte sich zwar bereits im
Immer
die gesündere Zukunft seines Bruders angesehen, aber eigentlich brauchte er ihm nur in die Augen zu schauen, um zu wissen, dass es mit seinem Zwilling schon werden würde.
     
    Am fünften Tag erst wurde Nava unruhig. Sie wachte bei Sonnenaufgang auf, hellwach und in klarer geistiger Verfassung. Jasper und David schliefen noch. Keiner von ihnen hatte die Wohnung seit ihrer Ankunft verlassen. Zwar sprachen sie es nicht aus, aber Nava wusste, dass die beiden das Gefühl hatten, über sie wachen zu müssen, solange sie hilflos war – wie sie auch über die beiden gewacht hatte, als diese hilflos waren.
    Sie hatte so viele Fragen an David, aber wann immer Nava sie zu stellen versuchte, hatte er nur den Kopf geschüttelt.
    «Wir haben alle Zeit der Welt, was Antworten angeht, Nava. Jetzt erholen Sie sich erst einmal. In den nächsten paar Tagen wird uns nichts passieren – versprochen.»
    Hätte jemand anders so etwas zu ihr gesagt, sie hätte ihm nicht geglaubt. Aber die Erfahrung hatte Nava gelehrt, David zu vertrauen; also tat sie, was er sagte. Und als sie ihn nun anstarrte, hob er den Kopf und lächelte.
    «Hey», sagte Caine und rieb sich die Augen. «Schon lange wach?»
    «Erst ein paar Minuten», sagte sie.
    Er stand auf, streckte sich und kam zu dem Sofa herüber. Er setzte sich auf den Couchtisch und fuhr mit einer Hand durch ihr Haar.
    «Sagst du es mir jetzt?», fragte sie.
    «Klar», sagte Caine, als hätte er nur auf ihre Frage gewartet.
    «Als ich Julia gefunden habe   …» Der Gedanke an die nackte, zerschmetterte junge Frau in dem Müllcontainer ließ Nava verstummen. Es schien tausend Jahre her. Nava schüttelte das Bild ab und kehrte mühsam in die Gegenwart zurück. «Sie hat mir gesagt, dass ich dich retten muss und du mir dann sagen wirst, warum ich überlebt habe,während meine Mutter sterben musste. Aber ich glaube, ich weiß es schon. Die Träume   … die Albträume, die ich als kleines Kind bekommen habe   … die mir Angst vor dem Fliegen gemacht haben   … die mir das Leben gerettet haben   … die kamen von dir, nicht wahr?»
    Caine lächelte und schüttelte den Kopf. «Nein.»
    «Woher dann?»
    Caine zeigte mit dem Finger auf ihre Brust. «Du hast sie dem kollektiven Unbewussten entnommen. Du musst eine deiner möglichen Zukünfte gesehen haben, und dann hast du sie vermieden.»
    «Wie?», fragte Nava.
    «Willst du wirklich, dass ich nochmal Jaspers Physikvorlesung repetiere?»
    «Glaube nicht», lachte Nava, aber dann umwölkte sich ihr Gesicht erneut. «Aber warum? Warum habe ich sehen können und meine Mutter nicht?»
    «Kinder sehen oft Dinge, die Erwachsene nicht in der Lage sind zu sehen. Wenn wir jung sind, ist unser Bewusstsein dem kollektiven Unbewussten viel näher. Aber, was noch viel wichtiger ist, Kinder
glauben
, was sie dort sehen. Aus diesem Grund können sie sich vorstellen, Feuerwehrleute, Astronauten und Helden zu sein. Erst wenn wir älter sind, wird uns beigebracht, dass wir unsere ‹irrationalen› Zukunftsbilder besser ignorieren.
    Vielleicht hat deine Mutter kurz ihren Tod sehen können. Vielleicht auch nicht. Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Nava. Ich kann dir nur sagen, dass du als kleines Mädchen in dem Moment, in dem du dich geweigert hast, dieses Flugzeug zu betreten, deine mögliche Zukunft gesehen und eine Entscheidung getroffen hast.
    Und deine Entscheidung war richtig. Du hast mehr Gutes in deinem Leben vollbracht, als dir wahrscheinlich bewusstist. Ich weiß, es tut weh, dass du ausgerechnet die eine Person, die dir am meisten bedeutet hat, verloren hast, aber daran wirst du nichts mehr ändern können.
    Weine um deine Mutter und deine Schwester, Nava. Aber weine nicht um dein Leben.»
    Caine nahm Navas Hand. «Du hast eine unglaubliche Begabung, den richtigen Pfad zu wählen – sie ist viel stärker, als dir bewusst ist. Hab Vertrauen in dich selbst, Nava, und du wirst in der Lage sein, dein Schicksal selbst zu bestimmen.»
    «Aber ich kann nicht so auswählen wie du», sagte Nava. «Ich kann mir nie sicher sein.»
    Caine schüttelte den Kopf. «Ich mir auch nicht. Ich habe zwar eine besondere Gabe, aber sie ist nicht unfehlbar. Sicher, sie gestattet mir, einen Blick in die Zukunft zu werfen, ob es nun eine Sekunde oder tausend Jahre sind, sodass ich den Pfad mit der höchsten Erfolgswahrscheinlichkeit auswählen kann, aber hundertprozentig sicher kann ich mir nie sein. Nicht einmal ich weiß alles,
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