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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee
Autoren: Juergen Banscherus
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neben das Fenster. Jetzt war es im Raum ziemlich eng.
    In der kurzen Zeit, die seit dem nicht geplanten Banküberfall – oder wie immer wir das nennen sollten – vergangen war, hatte Tom sich verändert. Wirklich, es war unheimlich. Seine Augen schauten kälter, die Lippen schienen schmaler geworden zu sein. Sein Gesicht war wie aus Eis. Oder aus Metall. Ein Fremder saß dort im Sessel. Keiner, der mich hätte streicheln dürfen, mit dem ich gern gekuschelt hätte. Seine Mütze hatte er achtlos neben sich auf den Boden geworfen.
    »Wo bleibt ihr denn?«, fragte Tom.
    Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Jurij ist gestürzt«, sagte ich.
    Tom hörte gar nicht hin. Er griff in seine Anoraktaschen und holte die Geldscheine heraus.
    »Wir sind reich«, sagte er, nachdem er schweigend gezählt hatte. »Fast fünfzigtausend Mark. Die reichen für Australien. Locker.«
    »Zeig mal«, sagte ich. Die Scheine fühlten sich gut an, verdammt gut, das muss ich zugeben. Auch wenn ich mich damit belaste. Reich waren wir nicht, aber mit fünfzigtausend Mark würden wir ganz schön weit kommen.
    An was anderes dachte ich in diesem Augenblick nicht, komisch. Ich hatte die alte Frau vergessen, den erschrockenen Kassierer, die Polizei, die uns suchte. Und auch meine Eltern, die aus allen Wolken fallen würden, wenn sie erfuhren, was passiert war. Beim Anblick des Geldes hatte sich in meinem Kopf ein Hebel umgelegt. Für ein paar Minuten dachte ich an nichts anderes als an Sonne, Sand und Meer.
    Dann gab ich Tom das Geld zurück, kniete mich neben Jurij und zog seine Hose hoch. Sein linkes Knie war abgeschürft, eine kleine Schwellung war zu sehen. Auf den ersten Blick schien er sich nicht schlimm verletzt zu haben. Trotzdem würde es das Beste sein, ihn so schnell wie möglich zum Arzt zu bringen. Das sagte ich auch zu Tom.
    »Zum Arzt? Bist du verrückt?«, rief der. »Dann haben sie uns doch gleich! Warum stürzt der Idiot auch?«
    Jurij richtete sich auf. An seiner Schläfe erschien eine dicke Ader. »Ach, ich bin ein Idiot?«, sagte er. Seine Stimme zitterte. »Und was bist du? Bescheuert bist du. Total bescheuert! Was hast du dir eigentlich gedacht? Hast du geglaubt, die von der Sparkasse schenken uns das Geld und fahren uns noch zum Flieger nach Australien? Na? Sag was, du blöder Hund!«
    Tom wischte sich über die Augen. Für einen kurzen Moment war er wieder der Alte, schüchtern und ein bisschen ungeschickt. »Aber wir wollten doch die Bank überfallen«, murmelte er. »Das hatten wir uns doch vorgenommen.«
    Was er da sagte, ließ mich auf der Stelle aus meinem Traum von Australien aufwachen. »Es war ein Spiel!«, rief ich. »Hörst du? Ein Spiel! Hast du das etwa nicht kapiert? Das darf nicht wahr sein!«
    »Ein Spiel, ein Spiel!«, äffte er mich nach. Er schien sich wieder im Griff zu haben. »Der Typ hat mir das Geld gegeben! Habt ihr das von draußen nicht gesehen? Der hat mir die Kohle freiwillig rübergeschoben. Was hätte ich denn tun sollen?«
    Jurij stand mühsam auf und humpelte mit geballten Fäusten auf Tom zu. »Was du hättest tun sollen?«, brüllte er. »Du hättest das Geld nicht zu nehmen brauchen! Du hättest die Mütze abnehmen sollen, dich für dein Niesen entschuldigen und gehen. Jetzt haben wir die Polizei am Hals!«
    »Mit Streiten kommen wir auch nicht weiter«, versuchte ich die beiden zu beruhigen. »Lasst uns das Geld zurückbringen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
    »Du spinnst«, sagte Tom.
    Jurij hustete. »Keiner wird uns glauben, Lina. Für die Polizei sind wir Bankräuber, klare Kiste. Nee, wir müssen abhauen. Irgendwie werden wir es schon schaffen.«
    Ich gab mich noch nicht geschlagen. »Aber der Kassierer kann doch bestätigen, dass er Tom das Geld freiwillig gegeben hat.«
    Tom lachte verächtlich. »Der wird den Teufel tun. Der fliegt raus, wenn er das zugibt.«
    »Und was ist mit Jurijs Knie?«
    »Halb so wild, Lina«, sagte Jurij. »Ich klaue ein Auto, dann geht’s.«
    »Das tust du nicht!«, rief ich.
    »Willst du mich etwa daran hindern?«, fragte Jurij.
    Ich sah, wie er die Geldscheine anstarrte, die Tom noch immer in den Händen hielt. Fing es jetzt bei Jurij an? Kriegte auch er jetzt den kalten Blick? Aber was war eigentlich mit mir? Hatte der Überfall mich nicht genauso verändert wie die beiden anderen?
    »Ihr seid verrückt«, sagte ich. »Alle beide.«
    »Und du?«, fragte Tom. »Warum hast du nicht auf die Polizei gewartet?«
    »Weiß nicht«,
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