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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee
Autoren: Juergen Banscherus
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Aber er war witzig, steckte voller verrückter Ideen und wir konnten toll miteinander reden. Stundenlang. Außerdem fand ich süß, wie er deutsch sprach.
    Irgendwann erzählte mir Melanie, dass Jurij Autos klaue und mit ihnen wie ein Wahnsinniger durch die Gegend rase. Zuerst wollte ich ihr nicht glauben. Doch dann donnerte er mitten im Ort am Steuer eines BMW an mir vorbei. Hundert fuhr er, mindestens.
    Da war Schluss. Nicht weil er klaute. Das fand ich gar nicht so schlimm. Er fuhr die Autos ja nur, bis das Benzin zu Ende war. Nein, ich wollte mit keinem gehen, dem sein Leben nichts bedeutete, der wegen eines schnellen Nervenkitzels alles aufs Spiel setzte. Vielleicht konnte ich aber auch bloß nicht ertragen, dass ihm die Beziehung zu mir nicht ausreichte, dass er noch was anderes brauchte. Stärkeren Stoff.
    Zwei Monate waren wir miteinander gegangen. Jurij versuchte erst gar nicht mich zu überreden, bei ihm zu bleiben. Er spürte wohl, dass es keinen Zweck hatte. Doch wir blieben Freunde. Das war mir wichtig.
    Tom lernte ich durch Jurij kennen. Ausgerechnet. Er brachte Tom eines Tages an den Rathausbrunnen mit. Dort war damals unser Treffpunkt, nach der Schule oder am Abend.
    Jurij erzählte Tom, ich sei ein Karateass und bereite mich gerade auf die Prüfung für den schwarzen Gurt vor. Tom forderte mich noch am selben Abend heraus – und besiegte mich. Vielleicht ließ ich ihn aber auch gewinnen, ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, dass seine Techniken nicht besonders sauber waren, dass es so aussah, als habe er sie auf der Straße gelernt und nicht in einem Sportverein. Aber stark war Tom, bärenstark. Und er hatte eine wahnsinnige Sprungkraft. Höher als ihn hatte ich bei Fußangriffen noch keinen springen sehen.
    Während ich an dem Abend mit ihm kämpfte, seine ungestümen Attacken abwehrte und ihn auf Distanz zu halten versuchte, wusste ich auf einmal, dass ich auf einen wie ihn gewartet hatte. An diesem Abend vor dem Rathaus war ich mir hundertprozentig sicher, dass Tom genau der Junge war, von dem ich schon lange geträumt hatte. Wenn wir uns in den nächsten Tagen mit unserer Clique am Springbrunnen trafen, hab ich ihn immer angucken müssen, es war wie ein Zwang. Melanie hat schon blöde Bemerkungen gemacht. Dabei hatte sie sich selbst in ihn verknallt.
    Eine Woche lang tat Tom, als merkte er nichts. Dann hielt er es nicht mehr aus und guckte zurück. Er war so was von schüchtern, das glauben Sie nicht. Da ist einer stark wie ein Bulle, hat Schultern wie ein Möbelpacker und wird rot, wenn ihn ein Mädchen anmacht! Sonst war er nicht so, überhaupt nicht. Er hatte sogar schon wegen einer Schlägerei vor Gericht gestanden. Aber das wusste ich damals noch nicht. Das hat er erst später erzählt.
    Ob Jurij auf Tom eifersüchtig war? Gezeigt hat er es jedenfalls nie. Oder ich hab nichts gemerkt, manchmal stehe ich ziemlich auf der Leitung. Für mich war Jurij von Anfang an mehr der Bruder, den ich mir von klein auf gewünscht hab. Tom hab ich geliebt, ja, das hab ich wirklich. Obwohl ich nie sicher war, ob es umgekehrt genauso war. Er sprach nicht viel, leider. Jurij und er verstanden sich gut, die beiden waren Freunde. Da können Sie jeden fragen.

2.
    Es war Oktober. Ende Oktober oder Anfang November, so genau weiß ich das nicht mehr. Über Nacht war es plötzlich kalt geworden. Am Morgen hatte Reif auf den Dächern gelegen, im Schein der aufgehenden Sonne hatte sich die Stadt in einen schönen Traum verwandelt. Nach der Schule waren wir gleich mit unseren Rädern zur Hütte gefahren und lagen jetzt faul auf den Matratzen. Jurij hatte irgendwann von zu Hause ein paar alte Decken mitgebracht. »Gute russische Decken von russisches Mütterchen-Oma«, hatte er gesagt und breit gegrinst. Den kratzigen grauen Stoff hatten wir über uns gebreitet. Trotzdem wurde uns nicht richtig warm.
    Außer mit den Zähnen zu klappern fiel uns an diesem kalten Nachmittag nichts Vernünftiges ein. In den Tagen zuvor hatten wir an der Inneneinrichtung der Hütte gearbeitet oder waren in die Steilwand gestiegen, um neue Kletterrouten zu erkunden. Wir waren inzwischen besser als die Leute vom Gebirgsverein, die hierher zum Freeclimbing kamen. Aber jetzt war es uns selbst zum Klettern zu kalt.
    Irgendwann stand Tom auf. »Ich verschwinde«, sagte er.
    Ich wickelte mich sofort aus den Decken, war froh, nach Hause und in die warme Badewanne zu kommen.
    Tom und ich standen schon in der Tür, da sagte Jurij
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