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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Autoren: Alfred Döblin
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verstehe.« Sie: »Ich hätte ihn gern behalten. Ich hätte ihn gern so behalten, wie er war. Es gibt Schriftsteller, die verlieren, wenn man ihnen begegnet. Er nicht. Er erschreckt.«
    Sie setzten sich auf das Sofa. Sie riß trotzig, mit einer ähnlichen Bewegung wie Barrès, einen Band Rolland heraus und schlug ihn auf. Dann drückte sie aber, in heftiger Erregung, den Kopf an die Schulter des Mannes. Und während er nach ihrer Hand griff und sie schwiegen – sie mit fest zugekniffenen Augen und gepreßten Lippen –, lief durch ihren Kopf ein rasches Gespräch: Woher, Herr Barrès, haben Sie eigentlich diesen ungeheuren Zorn auf Deutschland? – Ich habe ihre Roheiten schon als Kind im Krieg 1870 gesehn. – Inzwischen hat sich Ihr Zorn nicht abgeschwächt? Sie haben deutsche Werke studiert, Philosophie, Dichtung, Musik. Sie sind aufrechten Deutschen begegnet. – Es gibt würdige. Ich habe im Krieg ihre Stimme nicht vernommen. – Das besagt nichts. Der Krieg ist ein Tyrann. Er läßt nicht sprechen. – Die Maske ist gefallen. Sie haben sich enthüllt. Sie haben sich mit diesem Krieg vor der ganzen gesitteten Menschheit besudelt. – Wer? Wodurch? Womit? Haben ihre Truppen nicht nach den Regeln der Strategie gekämpft? Ist Mozart und Beethoven vernichtet, Dürer? – Kommen Sie mir nicht mit Strategie. Es sind Dinge geschehen …
    Sie hob ihren Kopf mit einem Ruck von der Schulter ihres Mannes, der sie aufmerksam von der Seite betrachtete. Nein, ich will ihn nicht anhören. Was er redet, ist Lug und Trug. Er ist ein großes, grauenhaftes Gehirn. Sie hätten ihn von Paris nicht herschicken sollen.

    Durch die Straßen schoben sich Barrès und der Lothringer, auf der Jagd nach Eindrücken. Sie kamen auf ihre Kosten. Eine Erregung, die sich von Tag zu Tag steigerte und bis zum Taumel ging, hatte sich der Stadt bemächtigt. Es duldete wenige in den Häusern. Bis in die Nacht trieb man sich singend und lärmend herum, Einheimische in Zivil, entlassene Elsässer in deutschen Militärmänteln mit Zivilhüten.
    In den Hauptstraßen drängten sich jetzt in der Kälte und Dunkelheit die Menschen und bildeten Spalier. Eine Militärkapelle an der Spitze, bewegte sich ein großer Fackelzug vom Kleberplatz her. Der Jubel um den Zug. Und da kamen sie, rechts und links von Fackelträgern flankiert, die Musikanten. Der Tambourmajor an der Spitze mit dem fliegenden Stab und dem gewaltigen Schnurrbart, die Trommeln und Pfeifen, Fanfaren, Pistons, und hinten, klatsch, klatsch, die Becken und die dumpfe Pauke. Das löste einen so ungeheuren Enthusiasmus aus, und man liebte all dies so, im Brausen der Stadt, die sich wie zu einer Hochzeit bewegte, man liebte die Trommeln und die Pfeifen, die Trompeten und Fanfaren, die Schellen und die Pauken, und die, die sie schlugen und bliesen, Trompeter, Pfeifer, Trommler, Schellenschläger und Pauker, daß es ihnen zuletzt nicht glückte, auf dem Rückzug durch die karnevalesk wilde Stadt in ihre Kaserne zu gelangen.
    Erst wurde ihnen aus der Menge der Schellenträger entrissen. Die Mädchen schlugen um ihn den Arm und zogen mit ihm ab. Sie schnitten sich aus dem Hochzeitskuchen ihr Stück. Der Tambourmajor mit dem wehenden Bart und dem strahlenden Lächeln war an der Reihe. Die Kapelle marschierte auch ohne ihn weiter. Der Blitz schlug auf die Fanfaren ein. Die Trompetenbläser wurden geraubt und von entzückt kreischenden Adlern mit Frauenhaaren in den Himmel getragen. Die Pfeifer, wo sind sie? Verschwunden der erste, der zweite, die ganze Reihe. Der Sturm erfaßte die Trommler, die noch zu entrinnen hofften. Und zuletzt donnerte herausfordernd die Pauke. Aber sie und der Mann hinter ihr konnten nicht ihrem Schicksal entgehen. Sie waren der letzte Zipfel der Fahne, die die Masse schon schwang. Noch einmal krachte er, dann hatte er die Hände nicht mehr frei, die Schlegel ergriffen andere, die Pauke wurde ihm entrissen.
    Sie kamen an dem Abend nicht in ihrer Kaserne an. Die Geschichte meldet nicht, wieviel Zeit man ihnen im Polizeisaal zum Nachträumen gab.

    Aber hinter unbeleuchteten Fenstern in ihren Häusern saßen die Altdeutschen. Sie waren an sechzigtausend, eine gewaltige Zahl für die Stadt Straßburg. Sie durften nicht sprechen, niemand wollte hören, was sie empfanden. Sie fürchteten sich, hielten sich versteckt. Wird man sie verjagen, wird man sie zum Freiwild machen.
    Lies, was sie schreiben über uns, wer wir sind. Das ist aus uns geworden. – Ja, und das ist wahr. Jetzt
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