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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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Gratwanderung, die zuerst eine sorgfältige Diagnostik erforderte, mit der ermittelt wurde, wo ein etwaiger Überschuss oder Mangel vorhanden war, woraufhin der Patient sein Leben ändern musste, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Brech- und Abführmittel, Schwitzkuren und Aderlässe lagen wegen der direkten Auswirkung auf den Flüssigkeitsstand auf der Hand, aber auch diverse Kräuter, Gewürze, Metalle, warme und kalte, trockene und feuchte Anwendungen hatten nach der Humoralpathologie spezifische Wirkungen auf die einzelnen Körpersäfte. Zu den Heilmethoden zählten Bäder, Klimaveränderungen und diätetische Maßnahmen. Auch die Lebensumstände spielten eine Rolle – für jedes Temperament, so die Überlegung, gibt es eine bestimmte, sehr individuelle Lebensweise, mit der es sich am besten und gesündesten entfalten kann. Nach der Diagnose galt es als Nächstes festzustellen, welche Aspekte an der Lebensweise einer Person das Gleichgewicht beeinträchtigten und welche förderlich waren. Die ärztliche Verordnung sah demnach eine Anpassung der Lebensumstände und Angewohnheiten (um es mit heutigen Begriffen zu sagen: Studium, Beruf, Ernährung, Sex, Alkoholkonsum, Musik, Familienbeziehungen …) vor, um eine Harmonie im Flüssigkeitshaushalt herzustellen und auf diesem Weg die Persönlichkeit zu stärken, die Zufriedenheit zu verbessern, körperlichen Krankheiten vorzubeugen.
    Galen beherrschte die Medizin viel länger, als gut für sie war, und länger, als er es selbst gewünscht hätte. Nachfolgende Generationen erhoben seine Schriften zum Dogma, sie honorierten seine Autorität, aber nicht seine Methode unvoreingenommenen Beobachtens und Experimentierens. Erst Mitte des 19.   Jahrhunderts, als Virchow die Rolle der Zellen bei der Entstehung von Krankheit aufdeckte, war die Humoralpathologie endgültig überholt. Aber Galens Erkenntnis, dass angeborene Tendenzen der Persönlichkeit in einem Zusammenhang mit psychischen und physischen Erkrankungen stehen, ist heute noch so frisch wie zu seiner Zeit.
    Das dunkle Zeitalter der Dämonen
    In Europa begann für psychisch Kranke ein finsteres Zeitalter, das vom Zusammenbruch des Römischen Reichs (im 5.   Jahrhundert) bis zum Auftreten Philippe Pinels (Ende 18.   Jahrhundert) dauerte. Zwar war das dunkle Zeitalter nie auch nur annähernd so umnachtet, wie wir es uns heute gern vorstellen, und es gab auch immer wieder vereinzelte Leuchttürme, aber für die psychisch Kranken, die »Irren«, »Tollen«, »Tobenden«, »Narren«, war das Abendland im Mittelalter und in der frühen Neuzeit tatsächlich die schlimmste Gegend zur schlimmsten Zeit. Die biologischen Theorien der Griechen hatten seelisch Kranke durchaus als Menschen betrachtet und konnten ihr sonderbares Verhalten nach einem medizinischen Modell völlig plausibel erklären. Seelisch Kranke waren Menschen wie wir, die zufällig im Zustand biologischen Ungleichgewichts waren: Das war nicht ihre Schuld und nicht weiter angsteinflößend, nur bedauernswert.
    Nach der Aufgeklärtheit der Antike aber brach eine Zeit der Ignoranz und des Aberglaubens an. An die Stelle des Arztes, der biologische Befindlichkeiten diagnostizierte, trat ein Kirchengelehrter, der Besessenheit konstatierte und die medizinische Behandlung durch Exorzismus, Inquisition, Folter und Scheiterhaufen ersetzte. Psychisch Kranke waren von gefährlichen, ansteckenden Dämonen bewohnt, die ausgetrieben und vernichtet werden mussten, um den Sieg des Bösen über das Gute zu verhindern. Natürlich gab es auch Ausnahmen – Klostergemeinschaften zum Beispiel, die sich der Kranken annahmen und Spitäler für sie bauten –, aber alles in allem war die Behandlung der psychisch Kranken ein Holocaust und ist ein beschämendes Kapitel der Kirchengeschichte. Christliche Theologie verbündete sich mit heidnischem Dämonenglauben und brachte eine Ideologie hervor, der zufolge Geisteskrankheit das Werk des Teufels war. Dem religiösen Drama, das in grellen Farben den ewigen Kampf Gottes gegen den Teufel schilderte, in dem die Irren als Bauernopfer die Zeche zahlten, hatte die moralische Neutralität der Humoralpathologie nichts entgegenzuhalten.
    Anderssein war gleichbedeutend mit dem Bösen, und das christliche Abendland fürchtete Ansteckung. Jemand, der sich sonderbar aufführte, verkehrte höchstwahrscheinlich mit dem Teufel und war eine Gefahr für das Wohl – und das Seelenheil – der gesamten Gemeinschaft. Im Extremfall waren Folter und
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