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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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Hippokrates führte ein rein biologisches Verständnis von psychischer und physischer Krankheit ein, das ohne Götter, ohne priesterliche Autorität, ohne Opfer und rituelle Beschwörungen auskam. »Die Menschen sollten aber wissen, dass aus nichts als dem Gehirn Freuden, Wonnen, Gelächter, Spott sowie Kummer, Leid, Verzweiflung und Wehklagen hervorkommen […] Es ist wiederum dieses, welches uns verrückt oder wahnsinnig macht, das Schrecken und Angst verursacht […] Diese Dinge, an denen wir leiden, kommen alle von dem Gehirn.« 5 Nach seiner Lehre waren psychische und physische Beschwerden durch ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle verursacht; Heilung war ein Ergebnis natürlicher Vorgänge, nicht übernatürlichen Wirkens. Es waren biologische Realitäten, an denen der Arzt scheiterte, wenn er scheiterte; er konnte die Heilung fördern, aber niemals garantieren. Den Verlauf einer Krankheit konnte er besser prognostizieren als beeinflussen. Aber immer konnte er beruhigen, ermutigen und raten – auch Trost und Zuspruch gehören wesentlich zum Heilungsprozess.
    Die Medizin – wie die Psychiatrie – betrachtete den Menschen als ihr Maß und setzte sich seine Behandlung zum Ziel. Die Heilkunst wurde ein säkularer Beruf, der sich ausschließlich auf wissenschaftliche Beobachtung und praktische Kenntnisse stützte. Dank aufmerksamer Untersuchung seiner Patienten und sorgfältiger Notizen ordnete Hippokrates Symptome zu zahlreichen neuen Krankheiten, jede mit gut dokumentiertem Verlauf, einer Prognose und der jeweiligen Epidemiologie. Er beschrieb Wahnsinn, Schwermut, Phrenitis (»anhaltendes Delirium mit Fieber«) und die Angst. Keinerlei Mystik kam der Diagnostik und Behandlung in die Quere. Krankheit war keine Strafe und keine göttliche Heimsuchung mehr, sondern Teil der Natur. »Die Menschen aber haben infolge ihrer Unerfahrenheit und Verwunderung geglaubt, ihre Beschaffenheit wie ihre Veranlassung seien etwas Göttliches.« 6
    Hippokrates war ein Genie der Prognose; er selbst hielt sie für die wichtigste Fähigkeit der Heilkunst. Er erkannte die Notwendigkeit, die Patienten in drei Kategorien einzuteilen: jene, die von allein gesund werden; jene, die der Behandlung bedürfen; und jene, die auf keinen ärztlichen Eingriff reagieren. Diese »Drittelregel« ist die nachhaltigste Erkenntnis der Medizingeschichte; sie wird nach wie vor den Medizinstudenten beigebracht, und sie gilt heute für zahlreiche psychiatrische Störungen.
    Die Behandlungsempfehlung hing von der Prognose für den Patienten ab. Gruppe 1, riet Hippokrates, solle keinerlei Behandlung erhalten, denn eine solche könne Schaden anrichten; diese Patienten genäsen mit der Zeit von allein. Gruppe 3 solle ebenfalls keine schädliche Behandlung erhalten, denn sie erschwere nur die Last der Krankheit, ohne Heilung herbeizuführen; diese Patienten benötigten stattdessen Trost und Zuspruch. Lediglich die Gruppe 2 bedürfe besonderer Therapien, wobei die Gefahren der Behandlung gegen die Gefahren der Krankheit abzuwägen seien. Der Arzt müsse sich vergewissern, dass sein Eingriff mehr nütze als schade. Außer in den Fällen, in denen extreme Umstände eine aggressivere Herangehensweise erforderten und rechtfertigten, bevorzugte Hippokrates vorsichtige, sanfte, natürliche Heilmethoden. Über den wahllosen und schädlichen Einsatz von Psychopharmaka, wie er heute gang und gäbe ist, wäre er bestürzt und zutiefst betrübt.
    Hippokrates war ein bescheidener Mann, der seine Patienten und Schüler liebte und von ihnen geliebt wurde. Nie doktrinär oder autoritär, war es ihm ein Vergnügen, aus der angehäuften klinischen Erfahrung, der eigenen und der von anderen, Erkenntnisse zu ziehen. Er institutionalisierte das Prinzip der säkularen ärztlichen Ausbildung und Praxis, er lernte am Krankenbett und von seinen Schülern, entwickelte seine Methoden weiter und führte als Autor einen unverwechselbaren Stil ein, der Maßstäbe für eine klare, objektive medizinische Fachliteratur setzte. Im Übrigen ließ sich Thukydides interessanterweise bei seinen großen klinischen Beschreibungen der Krankheit, die unsere Menschheitsgeschichte ist, vom Stil des Hippokrates inspirieren.
    Galen: Vater der Persönlichkeitstheorie
 (ca. 140 bis ca. 270   v.   Chr.) 
    Galen – eigentlich Galenos, denn auch er war Grieche – war ein medizinischer Tausendsassa, Heiler des Körpers und der Seele. Kein Arzt hatte je
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