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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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bewiesen, dass ihr Wunsch nach Genesung groß war und ihr Glaube an Heilung tief.
    Die Priester hatten eine neue Theorie über Krankheiten der Seele und des Geistes, ein neues Diagnosesystem und eine neue Behandlung entwickelt. Die Theorie lautete: Heimsuchung durch zornige oder eifersüchtige Götter. Das diagnostische Verfahren, genannt »Inkubation«, erforderte eine geistige Begegnung mit dem Gott. Nach der Reinigung erhielt der Pilger das Recht, in der Nähe des dem Gott geweihten Altars im heiligsten Raum des Tempels zu schlafen, wo er enthüllende Träume oder Visionen hatte, die von der erfolgten göttlichen Erscheinung zeugten. Vielleicht gab der Gott seine Botschaft klar und verständlich preis, indem er einen einleuchtenden Traum schickte, vielleicht verhüllte er sich aber auch in wirren Träumen. Die anschließende Behandlung im Tempel nahm bestimmte Aspekte der Psychoanalyse vorweg: Der Priester, rituell gewandet und den Asklepiosstab in der Hand, assistierte dem Träumer mit sachkundiger Deutung, sodass sich die Botschaft des Gottes über das Wesen der jeweiligen Krankheit, ihre Ursache und die notwendigen Maßnahmen zur Besänftigung des göttlichen Zornes entschlüsseln ließ. Brachte man nicht selbst einen Traum oder eine Vision zustande, oder war man zu krank oder zu beschäftigt, um die Wallfahrt auf sich zu nehmen, gab es professionelle Träumer, die als Stellvertreter dem Ratsuchenden die Inkubation abnahmen.
    Zur Erfahrung des Tempelbesuchs gehörten auch andere Annehmlichkeiten. Rituale, Gebete, Beschwörungen und Opfer besänftigten die Götter, und nebenbei war der Priester auf Psychotherapie, vernünftige Ratschläge und Heilkräuter spezialisiert. Wenn nötig, wurden Operationen durchgeführt. Darüber hinaus gab es das Badehaus und die Anlagen zur körperlichen Ertüchtigung, Rat für die Ernährung des Leibes, während die Bibliothek geistige Nahrung bereithielt, und für die Unterhaltung sorgte das Theater. Und es gab Wein … Die ansehnlichen Heilungserfolge sind also nicht weiter überraschend. Vom Patienten wurde schließlich erwartet, dass er eine großzügige Dankesspende an den Gott beisteuerte. Zum Beweis der Wunderkur wurde ein Täfelchen beschriftet und, neben zahlreichen seiner Art, weithin sichtbar ausgestellt, denn Werbung war gut fürs Geschäft und stärkte das Ansehen des Heiltempels. 4 Der hat die Zeiten überdauert und begegnet uns heute in zwei sehr unterschiedlichen Formen: als moderne religiöse Wallfahrtsstätte für Heilung durch Glauben und als irdisches Heilbad, dessen Kurangebote durch Bewegung, Diät und Einwirkung von Schönheit gesundheitsfördernd wirken.
    Hippokrates: Vater der Medizin
 (ca. 460 bis ca. 370   v.   Chr.) 
    Ein religiöses Weltbild war immer und wird vermutlich auch in Zukunft der beste Trost des Menschen sein, der mit den Ungewissheiten und Härten des Lebens zurechtkommen muss. Fast zu allen Zeiten und an allen Orten war der Glaube an Übernatürliches der einen oder anderen Art bestimmend. Die Griechen jedoch entwickelten ab dem 7. vorchristlichen Jahrhundert ein alternatives, säkulares Modell, mit dem sie erklärten, wie die Welt funktioniert und warum der Mensch erkrankt. Sie nannten es Naturphilosophie; wir nennen es Wissenschaft. Diese neue Art des Denkens besitzt ein hohes Erklärungspotenzial und schafft eine andere Form von Ehrfurcht und Schönheit. Die Anbetung unsichtbarer übernatürlicher Mächte wich der aufmerksamen Beobachtung der Natur und dem sorgsamen Nachdenken über die ihr zugrunde liegenden Gesetze und Prinzipien.
    Die Griechen standen auf den Schultern großer Vorgänger: Mit einem gewaltigen intellektuellen Parforceritt, der unsere moderne Welt hervorbrachte, bauten sie die schon beträchtliche wissenschaftliche Basis der babylonischen, persischen, ägyptischen und indischen Kultur aus und bewirkten eine regelrechte Explosion des Wissens und der Erkenntnis. Pythagoras bewies, dass die Sprache der Mathematik systematisch die Geheimnisse der Natur beschreiben kann; Demokrit begriff, dass sich die augenscheinliche Komplexität des Universums in kleinste, nicht mehr teilbare Atome zerlegen lässt; allgemein bekannt war, dass die Erde eine Kugel ist und die Sonne umkreist, und man konnte genau ihren Umfang berechnen, ja die Philosophen spekulierten sogar über ein »Multiversum«; Euklid erdachte die Geometrie und Archimedes die Grundzüge der modernen Integralrechnung.
    Und die Griechen erfanden die moderne Medizin.
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