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Nore Brand 03 - Racheläuten

Nore Brand 03 - Racheläuten

Titel: Nore Brand 03 - Racheläuten
Autoren: Marijke Schnyder
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du jetzt?«, wollte sie wissen.
    »Ich sehe mich mal um und warte ab, ob mir dabei etwas einfällt.«
    »Dann wünsche ich dir viel Glück dabei.«
    »Danke. Ich bin froh, dass ich kurz mit dir reden konnte«, lachte er, »das ist immer wieder erfrischend.«
    Sie legte das Telefon auf den Tisch zurück und holte eine Zigarette hervor.
    Sie warf einen Blick auf die Turmuhr der Pauluskirche. Die goldenen Zeiger leuchteten in der Morgensonne. Immer noch zu früh, um zu gehen.
    Noch eine Zigarette. Als Rettungsmaßnahme für Extremsituationen. Tief inhalieren, das half, den Ärger in Rauch aufzulösen.
    Sie zog eine Zeitschrift heran, die ihr Jacques am Sonntagnachmittag hingelegt hatte. »Du bist nervös. Lenk dich doch ein bisschen ab.«
    Am Morgen hatte sie ihm die Stadt gezeigt.
    Auf einer Galerie des Münsterturms hatte sie auf die Erbauer hingewiesen, die seit Jahrhunderten ihre Köpfe aus dem Sandstein streckten. Einfach so – und dann war sie erstarrt. Einer sah Jacques zum Verwechseln ähnlich. Sie packte Jacques und stellte ihn vor diesen Münsterarchitekten aus Stein. »Du gleichst dem da!«
    Jacques drehte sich um und musterte die Figur neugierig. »Der gefällt mir aber nicht. Der ist mir zu leblos.« Jacques lachte und verpasste dem Steingesicht einen Nasenstüber. »Soll ich mir auch einen Schnurrbart wachsen lassen?«
    Er schaute in die Richtung wie das Sandsteingesicht.
    »Immerhin genießt er eine schöne Aussicht. Altstadt, Aare und Berge. Wenn das Jahrhunderte dauern muss, ist es möglicherweise eines Tages auch kein Genuss mehr.« Er drehte sich ab. »Ich möchte nicht mit ihm tauschen.«

    Wieder zu Hause, redete er pausenlos über die Glocken. Er versuchte, sich und ihr zu erklären, wie man in den alten Zeiten die schweren Klangkörper in diese schwindelnden Höhen gehievt hatte.
    Das war keine Hilfe.
    »Was tigerst du herum?«, rief er plötzlich entnervt, »lenk dich doch ein bisschen ab. Merkst du gar nicht, wie unruhig du bist?«

    Sie blätterte gedankenlos in der Reisezeitschrift. Spannend, hatte er gesagt. »Man kann auch im Kopf reisen.«
    Warum sollte sie das lesen? Es war ein alter Bericht über Walfang. Die erste Publikation war in Leipzig gedruckt worden, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte erzählte von der Frau eines Walfängerkapitäns, die nicht zu Hause bleiben wollte, kein quasi Witwendasein führen wollte, sondern ihren Mann begleiten wollte auf seinen jahrelangen Fahrten; die Welt auf der Insel Nantucket war ihr zu eng geworden. So umsegelte sie mit ihm Patagonien, überquerte den Pazifik, blieb längere Zeit in Neuseeland, konnte sich von Hawaii kaum mehr trennen, glaubte sich im Paradies. Auf der Rückfahrt fühlte sie sich längere Zeit unwohl, zog sich in ihre Kajüte zurück und tauchte einige Tage später mit einem Neugeborenen, einem Sohn, an Deck auf, zur großen Überraschung des Kapitäns.
    Auf der ersten Seite war unter dem Titel die Fotografie einer alten Frau zu sehen. Strenge Augen in einem unbewegten Gesicht. Sie war bis unters Kinn zugeschnürt. Sie sah aus, als hätte sie ihr Leben lang gebetet und ihren Haushalt vorbildlich geführt. In ihren Augen leuchtete keine Abenteuerlust, kein Feuer verriet etwas über ihr bewegtes Leben. Dabei hatte sie so viel gesehen. Unter dem Bild stand eine Widmung in alten schwungvollen Buchstaben: Für Bertha. Das B war eckig und energisch.
    Nore Brand schob die Zeitschrift von sich. Der Reisejournalist beschrieb langatmig die Route, doch die Reisende war ihm ein Geheimnis geblieben.
    Wie war es möglich, in der Enge eines Fischkutters unbemerkt ein Kind zur Welt zu bringen? Hatte wirklich niemand gesehen, wie ihr Bauch rund wurde, wie sich die Schwangerschaft ins Gesicht zeichnete? Vermutlich sprach man nicht darüber. Wenn man über Dinge nicht sprach, dann sah man sie auch nicht. Emma Th. tauchte eines Tages in die Kajüte hinunter, ganz allein, störte die Männer nicht bei ihrer Arbeit, bei den Verfolgungsjagden auf Moby Dick. Sie gebar allein, in einem vom Sturm geschüttelten Walfangboot. Über die Reaktion des Kapitäns kein Wort.

    Nore Brand schob die Zeitschrift von sich und legte ihre Brille auf den Tisch.
    Auch das hatte sie hinnehmen müssen. Die Welt war im Begriff gewesen, ihre Konturen zu verlieren. Der Optiker hatte ihr zugelächelt. »Es ist Ihre Sehkraft, die sich verändert hat, nicht die Welt, Frau Brand.«
    Fieser Typ.
    »Du siehst aus wie John Lennon«, hatte Nino gemeint und auf die Brille
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