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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Du sagst deiner Mutter, deiner lieben, sanften Mutter mit den blassen Händen und den liebevollen Augen, dass du eine neue Katze willst.
    Du trittst dein Kindermädchen. Du weinst und stampfst mit den Füßen, weil deine Mutter außer Haus ist. Du bekommst Pfefferminzschokolade geschenkt, haufenweise, in grünweißes Papier eingewickelt, und wirfst sie in den Kamin, damit du sie nicht mit deinem weichen, stotternden Cousin teilen musst. Du beobachtest deinen Vater bei der Arbeit, sein dunkles Haar ist wie deins, aber die Augen hinter der dünnen Brille sind kühler, ohne das boshafte Funkeln eines verdorbenen Jungen. Du fürchtest diesen großen Mann mit der tiefen Stimme und den breiten Händen und willst wie er sein.
    Vampa presste sich das Buch an die Brust. Blasse Lichter der Vergangenheit erleuchteten sein Gesicht.

    »Ich … erinnere mich.« Das erste Mal seit neun Jahren lächelte er. Er fühlte die glühende, feurige Schönheit der Wahrheit in sich und sie strahlte aus ihm heraus. Tausend Bilder, Melodien und Gerüche durchwirbelten ihn, und er hatte nicht gewusst, wie unendlich die Größe eines Herzens war, solange das Dunkel geherrscht hatte. Jetzt sprangen Gefühle in ihm auf wie reife Knospen, erschütternd, entsetzlich und wunderschön, während das Gewicht eines ganzen Lebens auf ihn herabwälzte gleich einer sommerlichen Woge.
    Seine Katze …
    Seine Mutter! Seine Mutter und sein Vater!
    Bewegt blickte er zu Apolonia und Tigwid auf. Ihm war, als sähe er sie zum ersten Mal. Und in gewisser Weise war es auch so.
    »Ich bin ein Mensch«, hauchte er und lächelte. »Ich heiße Marinus … Marinus, das bin ich, ich lebe!«
    »Nicht mehr lange.«
    Apolonia und Tigwid fuhren herum.
    Im Eingang - stand Morbus. Seine Pistole war auf Vampa gerichtet. Dann fiel der Schuss.
     
    Er empfand keinen Schmerz. Als die Kugel durch das Buch schoss und sein Herz traf, durchfuhr ihn eine fast süße Verwunderung darüber, dass er so heftig fühlen konnte.
    Er taumelte einen Schritt zurück und starrte auf das Loch im Buch. Dann knickten seine Knie ein. Der Augenblick, in dem er zu Boden sank, schien eine halbe Ewigkeit zu umfassen.
    Das Nächste, was er wahrnahm, war Apolonia, die neben ihn stürzte. Ihr entsetztes Gesicht war ein schönes Bild, das ihn berührte; doch es berührte ihn nicht mehr wie vorher, als er noch der Junge Gabriel gewesen und sie geliebt hatte. Jetzt war es anders - war er anders.

    »Vampa!« Sie beugte sich über ihn. »Nein, nein, nein…« Panisch riss sie einen Streifen aus ihrem Kleid und presste ihn gegen das hervorströmende Blut. Vampa wollte sie beruhigen; er wollte ihr sagen, dass sie sich nicht sorgen musste. Doch dann verschwamm die Gegenwart, und er glitt in einen Zustand, der traumhafter und zugleich klarer war als das Bewusstsein.
    Hier offenbarte ihm das Leben sein Gesicht: Nun da er es endlich gefunden hatte und verlieren würde, teilte es seine Geheimnisse mit ihm.
    Er sah alle Gesichter vorbeiziehen, alle Gesichter, in die er je geblickt hatte. Er sah eine Banditenbande, die ihr Opfer im Kreis erstach, sah das Opfer sterben, das Gesicht zerfließen, bis es sich in das Gesicht des Mörders verwandelte, der in den Opiumhöhlen von Eck Jargo ewigen Schlaf fand; er sah ein Kalb auf der Schlachtbank, in dessen Augen das Leben erlosch, und sah den Metzger seinen letzten Schnaps trinken, bevor ihm das Herz im aufgedunsenen Körper stehen blieb. Gesichter, tausend Gesichter zeigten sich ihm in einem schnellen Rausch, rennende Kinder, die sich in silberne Fische verwandelten, er sah die Fische zu Hunden werden, die durch die Gassen huschten, sah die Hundegesichter zu den traurigen Gesichtern der Obdachlosen schmelzen, ihre Gesichter wurden verdrängt durch die Gesichter der Reichen, er sah Männer zu Frauen zerfließen, Frauen zu Kindern, Kinder zu Greisen, zu Toten, zu Neugeborenen. Sie alle verschwanden, alle zerfielen, wurden fortgespült, und doch war das Gesicht des Lebens immer da, und es blickte Vampa aus den ewigen Augen der Lebenden an und lächelte. In diesem Gesicht sah Vampa nun sein eigenes. Es strömte vorbei, zerfloss und verging. Und nur dafür - um einmal das Gesicht der Welt zu tragen, um einmal das Gesicht der Welt zu sein -, dafür hatte er gelebt. Und würde er sterben.

    »Gut. Ist gut«, murmelte er und berührte Apolonias Hand. »Ist alles gut … Ich fürchte nicht …«
    Das Gesicht der Welt strahlte deutlicher denn je. Dann wurde das Licht immer heller, bis
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