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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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verschwand von einem Tag auf den anderen. Er verließ frisch pensioniert das Haus, um in der Badeanstalt einen Jass zu klopfen. Grosi habe er unter der Tür zugerufen, er komme nicht zum Mittagessen. In der Badeanstalt habe er die Karten verteilt und sei mit der Entschuldigung, er fühle sich schlecht, auf die Toilette gegangen. Als einer der Männer nach einer Weile nachsah, wo Großvater blieb, lag er tot in der Kabine. «Ein schöner Tod», sagte Mutter und weinte.
    Fleur überlegt, was sie im Aufsatz schreiben soll. Warum finden es die Experten am Fernsehen so schlimm, dass Menschen anderen helfen, sich schmerzlos zu töten? Sie findet es viel schlimmer, dass mehr als vier Menschen pro Tag das Leben nicht aushalten. Nicht mehr können. Wie M.S. und der Schüler, der sich vor den Zug warf, weil herausgekommen war, dass er Geld aus der Klassenkasse genommen hatte.
    Fleur schreibt «freier Wille» oben aufs Blatt. Dieser Theologe und das «Geschenk des Lebens». Ein Geschenk kann man ablehnen. Das Leben wird einem aufgezwungen. Die Eltern werfen einen in die Welt und erwarten erst noch Dankbarkeit dafür. Ist man einmal da, muss man aufstehen, essen, lernen. Jeden Tag aufstehen, essen, lernen. Nur Tote sind frei. Es müsste Geschenk des Todes heißen.
    Das kann sie nicht schreiben. Sie will nicht, dass die Deutschlehrerin ihre Gedanken liest.
    Alice setzt sich mit Zeichenstift und Papier in die Küche. Am Radio spielen die Berliner Philharmoniker eine Sonate von Chopin. Was soll sie zeichnen? Der Sprung in der Suppenschüssel fällt ihr ins Auge. Sie sollte die Schüssel nicht mehr verwenden. Nicht dass das letzte Erinnerungsstück an die Großmutter zerbricht. Sie zeichnet eine Frau mit Schürze, zu deren Füßen Scherben liegen. An der Tür klingelt es. Hat ein Nachbar den Schlüssel vergessen? Beim zweiten Mal fällt ihr ein, dass sie zum Kaffee eingeladen hat.
    «Bist du krank?», fragt Elsa zur Begrüßung und deutet mit dem Kopf auf Alice’ Trainerhose. «Nein, ich bin am Zeichnen. Kommt rein, ich ziehe mich schnell um.» Vom Schlafzimmer aus hört sie Susanne sagen: «Alice wird schrullig. Sie zeichnet zerbrochenes Geschirr.» Alice knöpft die Bluse zu und gesellt sich zu den Frauen. «Ich bin eigenwillig, schrullig sind Alte. Kaffee wie immer?» Sie nicken.
    Alice füllt den Kaffeefilter und legt Geschirr, Zucker, Milch und Butterherzen auf ein Tablett. Beim Auftragen hört sie Elsa «Hirnschlag» und Britt «Jesses» sagen. Elsa wiederholt für Alice: «Frau Hitz. Ihr Mann ist gestern Abend zu mir gekommen. Sie ist halbseitig gelähmt.» Alice versucht sich zu erinnern, wer Frau Hitz ist. «Die Frau mit den Blumenschals?» Elsa bejaht. Einen Moment lang ist nur das Blubbern des Kaffees in der Küche zu hören. Alice verteilt die Tassen. Fast bei jedem Treffen erzählt eine der Frauen von jemandem, der erkrankt, verunfallt, gestorben ist.
    Susanne lenkt das Gespräch auf den Handlesekurs, den sie besucht. Alice geht in die Küche. «Ich kann schon Charakterzüge erkennen», sagt Susanne. «Solange du nicht mein Schicksal voraussagst, kannst du erzählen, was du willst», bemerkt Elsa. Ein typischer Elsa-Satz. «Ich will nicht leiden», hat Alice von ihr schon vernommen und «außer Krankheiten erwarte ich nichts mehr Neues». Sie bringt den Kaffee ins Wohnzimmer und schenkt ein. Susanne sagt zu Elsa: «Du erfährst deine Zukunft im Fernsehprogramm von nächster Woche.» Elsa bricht in Gelächter aus. Alice, Britt und Susanne stimmen ein. Britt lacht mit den Brüsten, Elsa von Mund- zu Augenwinkeln, Susanne mit trockenen Lauten. Ihre Haut bleibt ernst.
    Zu Zeiten des Balleros kannte Alice außer Britt niemanden im Dorf. Sie war nur zum Schlafen hier. Nach dem Verkauf meldete sie sich fürs Seniorenturnen an, um Anschluss zu finden. Trotzdem machte sie sich nach dem Unterricht auf den Heimweg, während die anderen Teilnehmerinnen in der Dorfkneipe den Durst löschten. Sie wusste nicht, ob sie willkommen war. Die anderen schienen sich seit langem zu kennen. Eines Tages gab sie sich einen Schubs und ging mit. Seither denkt sie Turnen und Trinken zusammen.
    Susanne kramt in ihrer Handtasche und zieht die Lippen nach. Alice sieht ihr zu. Gefällt sich Susanne? Ihr Mund ist wulstiger als der von anderen Frauen ihres Alters, das Kinn kleiner, die Stirn glatter, die Bäckchen sind runder, die Mundwinkel gerader. Martin hatte einmal bemerkt, das chirurgische Anlitz des Alters sei zwar faltenlos, habe aber
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