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nmp12

nmp12

Titel: nmp12
Autoren: Unknown
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abgeschobene Regularien des
Fahrplans.
    Die Gare de Lyon ist so etwas
wie die erste Adresse für Bahnkunden, denen sonst der Airport-Flair vertrauter
ist als Bahnhofsmief. Aber da der hochgelobte und international renommierte TGV
die rund 450 Kilometer lange Strecke in die Handels-Metropole Lyon in gerade
zwei Stunden zurücklegt, steigt auch die Kundschaft, die Diplomatenkoffer statt
Rucksack trägt, immer häufiger auf den Schnellzug um.
    Zu Burmas Zeiten ging es noch
etwas gemächlicher zu. Aber auch da schmückte die Schalterhalle bereits ein
über — zig Meter durchlaufendes Gemäldeband, das die Reisenden vorab auf die
Fahrtstrecke einstimmte und alle Stationen bis hin zur Côte d’Azur Revue
passieren ließ.
    „ Wo ich doch so gerne, ja, fast wollüstig den
Kohlegeruch einer Lokomotive einatme ...“ Zu spät, Nestor!
    Statt nach dem unnützen
Geplauder mit dem mißtrauischen Inspektor Grégoire den Jahrmarkt aufzusuchen,
hätte Burma besser den „Train Bleu“ bestiegen, das pompöse Belle-Epoque-Restaurant,
zu dem eine Freitreppe in den ersten Stock hinaufführt. Stuck beherrscht die
Szene, mächtige Luster streuen das Licht auf die Wandgemälde und die tiefen
Ledersessel, die sich um das Halboval der stilgerechten Bar gruppieren.

    Ich widerstehe den Verlockungen
der üppig ausgestatteten Cocktail-Karte und bestelle einen doppelten Kaffee.
Ein polyglott bedruckter giftgrüner Karton rechtfertigt in holprigem Deutsch
das überladene Dekor: „Die Gesamtheit der Gemälde gibt leuchtende Landschäfter
der Bahnverbindungen.“ Ich schließe die Augen für einen Moment und phantasiere
mich in den Orient-Express. Aber als ich die Augen wieder aufmache, sitzt kein
Hercule Poirot neben mir. Nicht einmal und erst recht nicht Nestor Burma. Die
Zeit der Detektive scheint vorüber.
    Ich zahle und verlasse den
penetrant nostalgischen „Train Bleu“, „wo sich alle Passanten, Touristen und
Pariser fangen lassen“, wie mir der giftgrüne Karton verrät, „wo sie das
moderne Leben wiederfinden, wo die gerade Linie über die Kurven der Barockkunst
gesiegt hat.“ Wie wahr.
    Gerade Linien durchziehen heute
das 12. Arrondissement. Der von Maurice Chevalier besungene Quai de Bercy im
Süden am Ufer der Seine, der Boulevard Poniatowski im Osten, wo die Krimi
verschlingende Witwe Parmentier ihr Domizil hatte, und im Norden der Cours de
Vincennes, der über die Place de la Nation mit dem längst verschwundenen Foire
du Trône in den langgestreckten Faubourg St. Antoine mündet, das Zentrum der
Möbeltischler. Vieles, was einmal krumm und winklig war in diesem etwas
abseitigen 12. Arrondissement, ist von den Stadtplanern begradigt worden. Oder
einfach vom Erdboden verschwunden. So wie der Güterbahnhof von Reuilly, der
fußball-feldergroß Leere gähnt. Die angrenzenden Mietskasernen sind
stehengeblieben und machen den Anblick nur noch trister.

    Nichts mehr ist geblieben von
dem exotischen Gassengewirr an der Gare de Lyon. Das Italiener-Viertel war es
einmal, da doch die hier abgehenden Züge nach Süden fuhren. Dann nisteten sich
die Chinesen hier ein, richtiger gesagt: die Flüchtlinge aus Vietnam,
Kambodscha und Laos nach dem für Frankreich verlorenen Indochina-Krieg. All die
kleinen Händler, die mit den vormaligen Kolonialherren ihre Geschäfte getrieben
hatten und als Kollaborateure galten. Wenige Jahre später ging auch Algerien
für die Grande Nation verloren und abermals spülte ein noch größerer Exodus
heimatlos gewordene Vertriebene ins Land. Und schließlich blieb auch eine
Vielzahl von Afrikanern in Paris, die als Studenten oder billige Arbeitskräfte
gekommen waren und nun nicht mehr zurückkehren wollten.
    Das Bahnhofsviertel um die Gare
de Lyon geriet zum Schmelztiegel der vergessenen, verlorenen und eine neue
Bleibe suchenden Exilanten. Aber die exotische Idylle einer Notgemeinschaft
zwischen abbruchreifen Häusern entwickelte sich zum explosiven Gemisch, als
Zuhälter und Drogendealer zuzogen und Bauspekulanten häuserreihenweise
Grundstücke aufkauften. Die Gegend um die Rue de Chalon wurde zu einem der
verruchtesten Quartiers der Stadt. Aber das von zahlreichen Großrazzien
begleitete kriminelle Zwischenspiel ist eine historische Episode. Inzwischen haben
die Bulldozer, die in den 70er Jahren schon das traditionelle Arbeiterviertel von Belleville überrollt hatten, auch den Südosten der Stadt
erreicht. Wo heute Behelfsbrücken über provisorische Parkplätze hinwegführen,
werden bald Bürobauten
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