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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
Autoren: Selma Lagerloef
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trotzdem ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.
    Und mehr gehörte nicht dazu, um ihr Mut zu machen, ihr Vorhaben auszuführen. – – –
    Die Lehrerin und die Kinder hatten ein paar Lieder vor dem Fenster des Vorstehers gesungen. Sie fand selbst, daß ihr Gesang
     so wunderbar schön geklungen hatte in dieser Abendstunde. Es war, als hätten unbekannte Stimmen mitgesungen. Der ganze Raum
     war gleichsam von Tönen und Lauten angefüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, dann hatten ihre Stimmen
     einen Klang und eine Kraft erhalten, die sie sonst nicht besessen hatten.
    Da tat sich plötzlich die Tür auf, und jemand kam schnell heraus. »Jetzt kommen sie, um mir zu sagen, daß ich nicht mehr singen
     soll,« dachte die Lehrerin. »Wenn ich ihm nur nicht geschadet habe!«
    Aber das war nicht der Fall. Es war die Bitte, sie möchte ins Haus hineinkommen und etwas ausruhen und dann noch ein paar
     Lieder singen.Da drinnen kam ihr der Doktor entgegen. »Die Gefahr ist für diesmal vorüber,« sagte er. »Er lag besinnungslos da, und das
     Herz schlug schwächer und schwächer. Aber als Sie zu singen begannen, war es, als erhalte er einen Gruß von allen denen, die
     seiner Hilfe bedürfen. Er fühlte, daß für ihn die Zeit, Ruhe zu suchen, noch nicht gekommen sei. Singen Sie ihm noch etwas
     vor! Singen Sie und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen! Jetzt dürfen wir uns vielleicht
     Hoffnung machen, ihn noch ein paar Jahre zu behalten.«

LII. Die Reise nach Bemmenhög
    Donnerstag, 3. November.
    Eines Tages zu Anfang November flogen die Wildgänse über Hallandsås nach Schonen hinein. Mehrere Wochen hindurch hatten sie
     sich auf den großen Ebenen um Falköping aufgehalten, und da sich noch andere Scharen Wildgänse dort niedergelassen hatten,
     war es eine vergnügliche Zeit gewesen mit vielen Unterhaltungen zwischen den alten Vögeln und viel Wettstreit in allerlei
     Leibesübungen zwischen den Jungen.
    Niels Holgersen seinerseits war nicht erfreut über den langen Aufenthalt in Westgötland. Er gab sich Mühe, den Mut aufrechtzuhalten,
     aber es wurde ihm schwer, sich mit seinem Schicksal auszusöhnen. »Hätte ich nur erst Schonen glücklich hinter mir und wäre
     im Ausland!«dachte er, »dann wüßte ich, daß ich nichts mehr zu hoffen hätte, und dann würde ich mich Wohl beruhigen.«
    Endlich an einem frühen Morgen brachen die Wildgänse auf und flogen über Halland hinab. Anfangs spürte der Junge gar keine
     Lust, auf die Landschaft hinabzusehen. Er meinte, da sei ja nichts Neues zu entdecken. Der östliche Teil war bergig mit großen
     Heideflächen, die an Småland erinnerten, und weiter nach Westen zu war das Land mit runden, kahlen Bergen bedeckt und von
     Buchten zerschnitten, ungefähr wie in Bohuslän.
    Als die Wildgänse aber die Reise südwärts, an dem schmalen Küstenstrich entlang, fortsetzten, beugte sich der Junge weit über
     den Hals des Gänserichs vor und verwandte keinen Blick mehr von der Erde. Er sah, wie die Berge spärlicher wurden und die
     Ebene sich ausbreitete. Und er sah auch, daß die Küste nicht mehr so von Buchten zerschnitten war. Die Schären draußen vor
     dem Ufer lagen immer mehr vereinzelt, bis sie schließlich ganz verschwanden, und das weite, offne Meer bis dicht ans Festland
     heranreichte.
    Und dann hörte der Wald auf. Höher nordwärts hatte der Junge ja viele schöne Ebenen gesehen, aber sie waren alle von Wäldern
     umrahmt gewesen. Überall war Wald. Es war, als wenn das Land eigentlich den Bäumen gehörte, und das bebaute Land lag wie große
     gerodete Plätze im Walde. Und auf allen Ebenen standen Baumgruppen und kleine Haine, wie um zu zeigen, daß der Wald jeden
     Augenblick kommen und das Land wieder wegnehmen könne.
    Hier aber war es anders. Hier hatte die Ebene dieÜbermacht. Sie erstreckte sich ganz bis an den Horizont. Da waren große gepflanzte Wälder, aber kein wildgewachsener Wald.
     Doch gerade, daß das Land so offen dalag, ein Acker neben dem andern, bewirkte, daß es den Jungen an Schonen erinnerte. Der
     offne Strand mit dem weißen Sand und den Tanghaufen kam ihm auch so bekannt vor. Ihm wurde so fröhlich und ängstlich zugleich
     ums Herz, als er das sah. »Jetzt kann ich nicht mehr weit von meiner Heimat entfernt sein,« dachte er.
    Die Landschaft veränderte sich jedoch wieder. Aus Westgötland und Småland kamen Bäche herabgebraust und unterbrachen die
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