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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
Autoren: Selma Lagerloef
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kannst doch wohl begreifen,
     daß es für dich, derdu nie geflogen hast, unmöglich ist, mit den wilden Gänsen ganz bis nach Lappland hinaufzukommen. Willst du nicht lieber
     umkehren, ehe du dich ganz zuschanden machst?«
    Aber der Gänserich kannte nichts Schlimmeres als diesen Häuslerjungen, und kaum ward es ihm klar, daß der armselige Bursche
     ihm nicht zutraute, die Reise zurücklegen zu können, als er sich auch schon entschloß, auszuhalten. »Sagst du noch ein Wort
     davon, so schmeiße ich dich in die erste Mergelgrube, über die wir hinfliegen,« sagte er, und im selben Augenblick verlieh
     ihm der Zorn solche Kräfte, daß er fast ebenso gut fliegen konnte wie irgendeine von den andern.
    Er hätte jedoch kaum so weiter fliegen können, aber das tat auch nicht nötig, denn jetzt sank die Sonne schnell, und gerade
     bei Sonnenuntergang nahmen die Gänse den Kurs abwärts. Und ehe der Junge und der Gänserich sich's versahen, waren sie an das
     Ufer des Bombsees niedergeschwebt.
    »Es scheint die Absicht zu sein, daß wir hier übernachten,« dachte der Junge und hüpfte von dem Rücken des Gänserichs herunter.
    Er stand an einem schmalen Sandufer und vor ihm lag ein ziemlich großer See. Der war häßlich anzusehen, denn er war fast ganz
     mit einer Eiskruste bedeckt, die schmutzig und uneben und voller Risse und Löcher war, so, wie das Eis im Frühling ist. Das
     Eis hatte scheinbar seine längste Zeit gesehen, drinnen am Lande hatte es sich schon gelöst und ringsherum hatte es einen
     breiten Gürtel von schwarzem, blankem Wasser.Aber noch lag es da und verbreitete Kälte und winterliche Unheimlichkeit um sich.
    An der andern Seite des Sees schien es hell und frei und bebaut zu sein, aber da, wo sich die Gänse niedergelassen hatten,
     war eine große Tannenschonung. Und es sah so aus, als wenn der Tannenwald imstande wäre, den Winter festzuhalten. An allen
     andern Stellen war der Boden frei von Schnee, aber unter den dichten Tannenzweigen lag Schnee, der geschmolzen war und wieder
     gefroren, geschmolzen und gefroren, bis er hart war wie Eis.
    Dem Jungen war es, als sei er in eine Wildnis, in ein Winterland gekommen, und ihm ward so unheimlich zumute, daß er gern
     laut geschrien hätte.
    Er war hungrig. Er hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Aber woher sollte er Essen bekommen? Im Monat März wächst
     nichts Eßbares weder an der Erde noch an den Bäumen.
    Ja, wo sollte er Essen herbekommen, und wer würde ihm ein Dach über dem Haupte geben, und wer würde ihm sein Bett machen,
     und wer würde ihn an seinem Feuer erwärmen, und wer würde ihn gegen wilde Tiere beschützen?
    Denn jetzt war die Sonne fort, und die Kälte stieg vom See herauf, und die Finsternis senkte sich vom Himmel herab, und die
     Angst kam in den Spuren der Dämmerung geschlichen, und im Walde fing es an zu pusseln und zu rascheln.
    Jetzt war es vorbei mit dem frischen Mut, den der Junge gehabt hatte, während er oben in der Luft war,und in seiner Angst sah er sich nach seinen Reisegefährten um. Er hatte ja sonst niemand, an den er sich halten konnte.
    Da entdeckte er, daß es mit dem Gänserich noch schlimmer stand als mit ihm. Er war an demselben Fleck liegen geblieben, wo
     er hinabgeschwebt war, und es sah so aus, als wenn er im Begriff war zu sterben. Der Hals lag schlaff an der Erde, die Augen
     waren geschlossen, und sein Atmen war nur noch ein schwaches Röcheln.
    »Lieber Gänserich Martin,« sagte der Junge, »du mußt versuchen, einen Trunk Wasser zu nehmen! Es sind kaum zwei Schritt bis
     an den See hinab.«
    Aber der Gänserich rührte sich nicht.
    Der Junge war ja früher hart gegen alle Tiere gewesen, auch gegen den Gänserich, aber jetzt fand er, daß Martin die einzige
     Stütze war, die er hatte, und er war schrecklich bange, ihn zu verlieren. Er machte sich sofort daran, ihn zu schieben und
     zu stoßen, um ihn ans Wasser hinabzubefördern. Der Gänserich war groß und schwer, daher war es ein hartes Stück Arbeit für
     den Jungen, aber schließlich gelang es ihm.
    Der Gänserich kam kopfüber in den See hinein. Einen Augenblick lag er regungslos im Schlamm, aber bald steckte er den Kopf
     heraus, schüttelte das Wasser aus den Augen und prustete. Dann schwamm er stolz zwischen dem Röhricht und den Rohrkolben dahin.
    Die wilden Gänse lagen schon vor ihm draußen im See. Sie hatten sich weder nach dem Gänserich noch nach dem Gänsereiter umgesehen,
     sondern sich sofortins Wasser
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