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Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters

Titel: Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Autoren: Ernst Peter Fischer
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Friedrich von Weizsäcker dem Autor einmal erzählt, beeindruckten besonders seine unter buschigen Brauen sitzenden Augen. Sie schienen genau auf die Dinge zu blicken und zugleich durch sie hindurch in eine unergründliche Ferne – ganz im Sinne der Komplementarität, die ein Wechselspiel von innen und außen annimmt. Bohr sah seine Mitmenschen zugleich zurückhaltend scheu und gütig zugewandt an, wie viele seiner Gesprächspartner berichtet haben.
    Bohr wollte immer lernen. Und er wusste, dass man immer etwas lernen konnte. Er wusste, dass man bald nichts mehr begreifen würde, wenn man mit dem Lernen aufhörte, etwa weil man glaubte, die Atome würden sich dem Verstehen grundsätzlich entziehen. Um hier weiterzukommen, musste man zum einen bereit sein, den Antworten der Natur im Experiment zu vertrauen, und sich von intuitiven Modellen lösen. Und man musste zum Zweiten den Mut haben, auch scheinbare Verrücktheiten zu durchdenken, die der eigenen Vorstellungskraft entsprangen und möglicherweise dennoch in der Lage waren, die Natur wissenschaftlich zu erklären. Bohr meinte nicht, dass die Menschen die Natur so verstehen könnten, wie sie es gerade wollen. Er hoffte aber, beim Umgang mit den Atomen über die Physik hinaus etwas lernen zu können und bei diesen Bemühungen
womöglich zu erfahren, was es im umfassenden und anspruchsvollen Sinne heißen kann, dass wir etwas »verstehen«.
    Wenn man etwa die Atome so erfassen will, dass damit die Materie erklärt werden kann, von der aus man zu den Atomen gelangt ist, dann dürfen die Atome selbst keine Materie sein, wie der Student Bohr bereits erkannt hatte. Dies machte ihm Mut, bei dem Entwurf seines frühen Atommodells physikalische Gegebenheiten aufzunehmen, die mit der Materie nur noch korrespondierten, ohne bereits zu ihr zu gehören. Auf diesem Wege lernte er, sich ganz von bestehenden Wirklichkeitsannahmen zu lösen, um im Innersten der Welt die Möglichkeiten auszumachen, aus denen die Dinge letztlich bestehen und mit denen alles beginnt.
    Lernen beruht auf Gegenseitigkeit. Bohr wurde entsprechend durch Widersprüche ermutigt. Sie gehörten für ihn untrennbar zum Denken dazu. Hatte man nicht erst dann etwas verstanden, wenn man sich auf beiden Seiten erkundigt und sich anschließend aufeinander zubewegt hatte? Konnte man Widersprüchlichkeiten nicht dadurch fruchtbar machen, dass man sie nicht nur aushielt, sondern ihre Spannung ausnutzte? Mit These und Antithese war wunderbar zu jonglieren, vor allem wenn man nicht bei der Synthese stehen bleiben wollte, sondern sie als neue These verstand und mit ihr den offen bleibenden Prozess des Lernens fortsetzte, für den die deutsche Sprache den Ausdruck »Bildung« bereitstellt.
    Bohr war ein Mann mit einem außergewöhnlichen Sinn für Gerechtigkeit. Er wollte die Standpunkte von Menschen so ernst wie möglich nehmen und sie zugleich versöhnen. So gelangte er zu seiner Vorstellung der Komplementarität, von der er hoffte, sie könne den Menschen – besser als eine Religion, die die Wahrheit zu kennen vorgibt – eine Orientierung geben, die sie leitet, wenn sich im widersprüchlichen Wissen keine Klarheit zeigt. Diese Idee war sein Vorschlag zur Lösung scheinbar unüberwindlicher Probleme, die auf unversöhnlich wirkenden Gegensätzen beruhten.
    »Contraria non contradictoria sed complementa sunt.« Gegensätze widersprechen sich nicht, sie ergänzen sich zu einem einheitlichen Ganzen, sie sind komplementär. Diesen Satz in lateinischer
Sprache schrieb Bohr am 8. Mai 1961, mitten im Kalten Krieg, auf eine Tafel in der Moskauer Lomonossow-Universität, als er in der UdSSR zu Besuch war und nicht nur Vorlesungen hielt, sondern den dort tätigen Physikern auch seine Kooperation anbot. Bereits ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Bohr darum gebeten, den ihm damals verliehenen ältesten dänischen Verdienstorden – den von seinem König überreichten Elefantenorden – mit dem Leitspruch »Contraria sunt complementa« zu versehen. Die Betonung liegt auf den Gegensätzen. Sie können gerade bei vernünftigen Antworten auf bedeutende Fragen auftreten, wie man seit den Tagen der Romantik weiß, aber zu wenig ernst nimmt. Widersprüche sollen aber nicht verwischt werden; die Versöhnung besteht nicht in einem Übermalen oder einem Ignorieren von Gegensätzen, sie besteht – im Gegenteil – in der Betonung und Befürwortung des Anderen.
    Eine versöhnende Komplementarität dieser Art ist – auf höherer Ebene –
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