Niedertracht. Alpenkrimi
Doch der uralte Ober war durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
»Pommes frites mit Sauce béarnaise sind eine unserer Spezialitäten«, näselte er weiter. »Was wünschen die Mesdemoiselles zu trinken?«
Das ausgewiesene Ambiente der
gehobenen bayrischen Tradition
zog natürlich ein Publikum an, das nicht mehr jugendlich zu nennen war. Kaum einer der gereiften Sommerfrischler hier im Speisesaal stand noch im Arbeitsleben, achtzig oder neunzig waren die rüstigen Racker, und nicht wenige von ihnen versuchten, Haus und Hof in der nicht weit entfernten Spielbank zu verprassen. Umso mehr mussten eigentlich die drei jungen Damen verwundern, die mitten unter den Raskolnikoffs und Guermantes saßen und immer wieder von Lachkrämpfen geschüttelt wurden. Der alte Ober jedoch verzog keine Miene.
»Dreimal Cola mit einem Schuss Gurkensaft, sehr wohl.«
Er wandte sich zum Gehen. Michelle hielt ihn zurück.
»Eine Frage habe ich noch, Herr Ober. Tun Sie
sucre
in die Sauce?«
»Natürlich. Unser Restaurant verwendet immer noch das Originalrezept unseres Gründers. Wir nehmen natürlich einen besonderen Zucker, nämlich kolumbianischen, und zwar aus der Gegend von –«
»Das wollte ich bloß wissen. Und, Herr Ober, dann will ich noch was wissen. Kennen Sie diesen Mann?«
Michelle zeigte dem greisen Tischknecht das Foto, das sie im gerichtsmedizinischen Institut heimlich beim Hinausgehen mit dem Handy geschossen hatte. Es war das Foto der Leiche. Der Ober des führenden Spitzenrestaurants im Kurort neigte sich über das Bild. Er, der nun schon so viele Jahre, eigentlich sein ganzes Leben, Contenance bewahrt hatte, der sie bei keinem Gast verlor, der selbst die Rolling Stones (und noch schlimmer, die Kelly Family) bedient hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, der dem Sultan von Oman einen Radi salzen und dem amtierenden Papst, als er inkognito hier war, eine Dose Schnupftabak besorgen musste, dieser mahnende Zeuge einer vergangenen Zeit wankte nun, er schluckte, rang nach Luft, verlor schließlich gänzlich die Fassung und ließ sich, blass und stieren Auges, auf einem Stuhl nieder.
»Unglaublich«, sagte die Herzogin von Guermantes, die in Wirklichkeit die Seniorchefin eines Schrauben- und Blechimperiums war, zu Fürst Myschkin, ihrem Liebhaber und Privatsekretär. »Das Personal setzt sich seit Neuestem an die Tische. Wie gewöhnlich!«
»Alles Folgen von Rot-Grün«, murmelte Fürst Myschkin, genannt der Idiot.
8
------- o!
Kampfjodler der Samurai
Der Putzi kannte sich in den Bergen der Umgebung gut aus. Als Kind hatte ihn sein Vater oft auf Wanderungen mitgenommen. Das waren natürlich keine richtigen Klettertouren, nur kindgerecht seillose Spaziergänge auf hügelige Plateaus, eher gemütliche Schlendereien und sonntägliche Bummeleien auf Seniorenpfaden. Es war Mitte Juni gewesen, ein paar Tage nach seinem zehnten Geburtstag, da ging es über den Philosophenweg zur Kuhflucht, das war eine babykrabbelleichte Wanderung. Das hätte seine Großmutter auch noch geschafft. Und der altersschwache Dackel. Da wäre der Goldfisch auf einer Flosse hingehüpft, sagte sein Vater damals. Der Putzi hatte ein niegelnagelneues Fernglas zum Geburtstag geschenkt bekommen. Das zückte er jetzt, auf einer leichten Anhöhe. Und dann sah er sie das erste Mal, die arme Gemse.
Gemsen mit dem einprägsamen Namen Rupicapra rupicapra sind Horntiere aus der Unterfamilie der Ziegenartigen, und sie sind bekannt dafür, dass sie nur dorthin springen, von wo aus sie wieder zurückkommen. Das ist ihre eigentliche Begabung, das ist das Handgepäck, das sie von der Evolution mitbekommen haben, um zu überleben. Diese Gemse jedoch, die der Putzi mit seinem Fernglas beobachtete, war von einem schmalen Felsvorsprung nach unten auf eine noch kleinere, tischtennisplattengroße Fläche gehüpft, und da saß sie nun fest. Sie hatte sich von ihrem kleinen Rudel getrennt und stand jetzt, nervös nach Auswegen suchend, in einer luftigen Falle. Dieses Tier schien sich, artuntypisch, verschätzt zu haben. Es gab kein Zurück mehr: Die Stufe nach oben war zu hoch, seitlich gab es ebenfalls keinen kletterbaren Fels, und nach unten fiel die nackte Wand steil ab. Der Putzi schätzte, dass es sechzig oder siebzig Meter waren, und das war selbst für eine sprunggewaltige Gemse zu viel. Sie schnupperte am Boden, dann blickte sie wieder hinauf in die Richtung, in die ihre lieblose Rotte, ihre untreue Verwandtschaft verschwunden war.
Der
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