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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition)
Autoren: Mirko Bonné
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ihn, weil für ihn Ira noch immer am Leben war.
    Niels hatte einen Vater. Seine Mutter hatte sich nicht in der eigenen Garage vergast. Frau Juhl lebte ihr Leben an der Seite eines Vogelkundlers, sie kümmerte sich um die Kinder und kümmerte sich in der kalten Jahreszeit um ein leerstehendes Hotel, damit ihr Mann draußen am Strand Kormorane und Austernfischer beobachten konnte. Ich kannte Niels zwar nur flüchtig, hatte ihn aber gleich gemocht. Äußerlich war er trotz seiner dunkelblonden Haare und hellblauen Augen Jesse ähnlich, der die grünen Augen seiner Mutter und Großmutter hatte. Niels wirkte reifer. Er war um Verbindlichkeit bemüht und auffallend höflich, was nach Ansicht meines Vaters daran lag, dass er Schwestern hatte. Während Jesse bereits in einer Welt rein digitaler Medien lebte, blätterte Niels noch mit fragender Miene in einer Zeitung. Wenn er etwas las, war er davon gebannt. Wenn man ihm Bilder zeigte, stellte er Fragen, schien die Fotos in Gedanken miteinander zu verknüpfen und wollte sich ein schon beiseitegelegtes noch mal genauer ansehen. Anders als Jesse, der mich oft gar nicht wahrnahm, obwohl ich seit einer Viertelstunde neben ihm auf dem Sofa saß, interessierte sich Niels schon deshalb für jemanden, der plötzlich in seinem Gesichtsfeld auftauchte, weil dieser Mensch womöglich anders dachte als er selbst. Meine Mutter, die nur mit Niels redete, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wurde einmal von ihm gefragt, ob sie die Bilder gezeichnet habe, die im Wohnzimmer hingen. Als Niels von meinem Vater erfuhr, dass ich die Zeichnungen in New York gemacht hatte, in Manhattan und Brooklyn, stand er lange davor, betrachtete sie aufmerksam und sagte irgendwann zu Jesse, an dieser Kreuzung, West Houston und Broadway, habe er mit seinen Eltern auch mal gestanden – was schon deshalb erstaunlich war, weil meine Zeichnung keinen Titel hatte und so durch nichts verriet, dass sie tatsächlich diese eine Kreuzung in SoHo darstellte.
    Meine Mutter hielt den Jungen, der da beinahe täglich ins Haus kam und nicht selten mit ihnen zu Abend aß, für unaufrichtig. Für sie war der junge Juhl bloß raffiniert und verschlagen. Was auch immer er war, in ihren Augen war er bestimmt kein guter Einfluss. Die Weigerung meiner Mutter, ihre Dünkel zu begründen, führte zu der einzigen erbitterten Auseinandersetzung zwischen Jesse und ihr, von der ich wusste, und führte außerdem dazu, dass mein Vater nur umso stoischer darauf beharrte, dass sie Niels unrecht tat. Aber er mischte sich nicht ein, weder als meine Mutter Jesse mit einem Hausverbot für Niels drohte, noch als Jesse sie im Gegenzug mit stundenlangem Schweigen strafte. Als sie schließlich die Nerven verlor und ihn ankeifte und er sie daraufhin mit einem zweitägigen Liebesembargo aushungerte, stellte mein Vater bloß klar, dass er Niels mochte, und das nicht erst, seit er sich mit ihm im Hobbykeller einen Nachmittag lang über Modellflugzeuge, alte US -Bomber und Fliegerei im Allgemeinen unterhalten hatte. Mein Vater hielt Niels Juhl für ein ausgesprochen kluges Kerlchen, zudem für einen treuen Freund – eine Seltenheit.
    In seinen Augen war es Niels’ Engagement zu verdanken, wenn Jesse in der Schule nicht den Anschluss verpasst und sogar im Mathe-Einserkurs hatte bleiben können. Geometrie hatte mein Vater schon immer für wichtiger als, zum Beispiel, Geografie befunden, nie aber war ihm ein Jungspund untergekommen, der das genauso sah. Im Verlauf mehrerer Abendbrotvorträge durfte ich miterleben, wie die Beweisführung meines Vaters, dass wir in einer berechenbaren Welt lebten, bei Niels zunächst Verblüffung, dann Euphorie und schließlich bedingungslose Zustimmung auslöste. Jesse dagegen gab sich alle Mühe, gleichgültig zu wirken, so gleichgültig, wie ihm Geografie und Geometrie waren, solange er in beiden Fächern gute Noten schrieb. Nachdrücklich, ja vehement, sonst gar nicht seine Art, setzte sich mein Vater dafür ein, Jesse seinen Wunsch zu erfüllen. Der Junge sollte seinen Kameraden in den Herbstferien besuchen dürfen, nur durfte man ihn nicht allein in die Normandie fahren lassen. Zwar dauerte es ein paar Wochen, bis meine Mutter mürbe geredet war, dann aber lenkte sie erst in der Querele mit ihrem Enkel und kurz darauf auch in der Meinungsverschiedenheit mit ihrem Mann ein und gab schweren Herzens ihre Zustimmung zu einer Ferienwoche an der nordfranzösischen Küste.
    Ich fragte mich, was in diesen aufgewühlten
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