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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition)
Autoren: Mirko Bonné
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in der Mittagssonne und wurde nur gelegentlich von einem Verkaufsparkplatz für Nutzfahrzeuge, einer Raststätte oder umgebauten, flügellosen Windmühle unterbrochen. Das Schnarren aus den Lautsprechern, die Berieselung durch immer gleiche Hits, Katastrophenmeldungen und Werbejingles taugten wenig, um einen Teenager aus der Lethargie zu reißen.
    »Hast du eine CD , die du hören willst?«, fragte ich ihn deshalb, bekam aber keine Antwort. Ich knuffte ihn auf den Oberschenkel und sagte lächelnd mit einem Kopfschütteln: »Oh Mann, das kann ja echt lustig mit dir werden.«
    Sofort ließ der Klaps ihn herumfahren. Mit weit aufgerissenen Augen sah er mich an, sagte jedoch nichts, bis er den Ohrhörer herausnahm. Was denn? Ob wir schon da wären, wollte er allen Ernstes wissen.
    »Nein. Wir sind noch nicht mal in Bremen«, sagte ich genervt, und dass er noch warten müsse bis morgen Nachmittag, aber so lange ja weiter Musik hören könne.
    »Du bist wirklich der perfekte Kopilot.«
    Zerhackter, schneller HipHop kam aus dem Stöpsel in seiner Faust.
    »Ist das Eminem?«
    »Ich muss mal. Und hab Hunger. Geht aber, keinen Stress. War echt idiotisch, morgens loszufahren, find ich. Niels und Family sind garantiert nachts los. Wie immer. Sogar nach Dänemark zu Oma fahren die nachts. Oder mit Oma Nive in den Harz. Zack! Mitten in der Nacht wird die Oma aus dem Bett gezerrt. Ich meine, bitte! In den Harz! Was gibt es da? Nur tote Tannen. Aber Margo und Niels finden es cool, nachts durch die Gegend zu cruisen. Ist klar.«
    Jesses erste Reiseansprache, kurz und kryptisch. Einigermaßen erstaunlich fand ich, dass Niels’ ansonsten totgeschwiegene Schwester Margo plötzlich Erwähnung fand. Der Knopf wanderte zurück ins Ohr, die Schläfe sank wieder an die Scheibe. Die Regungslosigkeit wurde wiederhergestellt, und die Autobahn nahm kein Ende. Wie wunderbar musste es gewesen sein, hier über die Wiesen und Felder zu streifen, von Knick zu Knick, von Graben zu Graben, von einem Windschutz aus Bäumen zum nächsten, als es noch keine Autobahn gab, dafür aber eine grüne Ferne, so weit das Auge reichte. Im Grünen Heinrich schrieb Gottfried Keller von Vorbäumen des Waldes. Ich stellte mir Philipp Otto Runge vor, wie er von Elbe zu Weser wanderte und die Weite der Landschaft vielleicht mit der Weite in Pommern verglich, um für ein Gemälde über die Pracht der Schöpfung eine ganz eigene Weite erfinden zu können. 1810 starb Runge in Hamburg an TBC , der Schwindsucht, und ließ seine letzten Bilder zerschneiden. Richtig so. Zweihundert Jahre später hätte ihn angesichts dieser lärmerfüllten, grauen, das freie Land zerschneidenden Schneise der Schlag getroffen. Zumindest wäre er in Tränen ausgebrochen. Runge hätte sich gewundert, wäre am Autobahnrand stehen geblieben und hätte geweint. Und ich mit dem Jungen neben mir wäre an ihm vorbeigejagt.

4
    I ch kannte Jesses Gedanken und Empfindungen bestimmt nicht sehr gut, und wir waren einander auch nicht gerade von Herzen zugetan, doch weil meine tote Schwester in ihm fortlebte, liebte ich ihn. Erst im letzten Jahr war mir klar geworden, dass es nicht richtig sein konnte, mich einzig um Iras willen um den Jungen zu kümmern. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich nur aufgrund dieser Erkenntnis bereit erklärt, ihn mitzunehmen.
    Jesse hatte nie einen Vater gehabt. Er war dem Mann, der Ira irgendwo in Israel ein Kind gemacht hatte, nie begegnet und hatte auch zu keiner Zeit Gelegenheit dazu gehabt. Drei- oder viermal in fünfzehn Jahren hatte er sich bei Ira gemeldet, »der Mann aus Tel Aviv«, wie Jesse ihn spöttisch nannte. Sehen wollte er seinen deutschen Sohn nie, für ihn Unterhalt bezahlen ebenso wenig. Er hatte Ira das nötige Geld für ein Dach über dem Kopf zukommen lassen, und sie hatte davon für Jesse und sich das Haus in Wellingsbüttel gekauft.
    Angeblich war er Arzt. Angeblich lebte er in Südengland, in Bournemouth. Angeblich hieß er Mati. Ira nannte ihn so. In den Monaten nach ihrem Tod hatte ich immer wieder über den Mann aus Tel Aviv nachgedacht. Ich war neidisch auf Mati. Er wusste weder, wie schlecht es Ira ging, noch dass sie gestorben war. Niemand setzte ihn von Iras Beerdigung in Kenntnis, und so konnte man es ihm auch nicht verübeln, wenn er an dem Tag nicht nach Ohlsdorf gekommen war. Neidisch machte mich nicht, dass er in Südengland lebte und als Arzt offenbar genug verdiente, um der Mutter seines Sohnes ein Haus zu kaufen. Neidisch war ich auf
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