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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition)
Autoren: Mirko Bonné
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Umschlag zierte eines der beiden Selbstbildnisse von Franz Pforr, die Jacke, die Pforr trug, war grün nachkoloriert.
    »Der ganze Krempel«, meinte meine Mutter zerstreut, »den braucht ihr doch gar nicht. Wo, hast du gesagt, übernachtet ihr?«
    »In Belgien, in Mons.«
    Sie wiederholte es und fragte, wieso ausgerechnet da.
    »Einfach nur so, Mama. Es liegt auf dem Weg.«
    »Du wirst es wissen. Eh ich’s vergesse … Hier hast du seine Versichertenkarte.«
    Ich steckte die Chipkarte ein und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen. Auch in der Normandie gebe es Unterwäsche.
    Davon sei auszugehen. »Und genauso davon, dass du nur dieses Handwaschzeug dabeihast, von dem man sich einen Pilz holt. – Hier.«
    Sie hielt mir ein paar Geldscheine ins Auto, vielleicht vierhundert Euro.
    »Nimm es. Wenn der Junge es nicht braucht, gibst du’s mir wieder. Also in acht Tagen seid ihr zurück? Du rufst mich übermorgen an.«
    Die Beifahrertür ging auf. Mein Vater stellte Jesses Rucksack in den Fußraum und zwinkerte mir zu. Ich roch sein Aftershave.
    »Habt eine schöne Zeit, Markus. Arbeite nicht zu viel. Mach lieber Skizzen. Deine Skizzen waren immer wunderbar. Skizzen, hörst du?«
    »Er hat’s gehört«, sagte von links meine Mutter.
    Und mein Vater von rechts: »Das Buch hast du?«
    Ich nickte. »Ist eingepackt. Ich werd’s mir ansehen, sobald wir da sind. Danke.«
    Das Buch war der Bericht eines jungen Lastenseglerfliegers der Royal Air Force, der im Sommer 1944 in der Nacht zum D-Day die Erstürmung der Pegasusbrücke in der Normandie miterlebt hatte. Er hieß McCoy Lee, hatte also denselben Nachnamen wie wir gehabt. Deshalb hatte mein Vater das Buch gelesen und wollte es mir leihen.
    »Gut. Aber lies es auch wirklich! Es ist spannend und voller Details. Man erfährt nicht nur viel über ihre fantastischen Gleiter, die ganz aus Holz waren, sondern auch über die Brücke, die sie erstürmen sollten. Ich geh rein und seh nach, wo der Prinzregent bleibt. Also: Bonne chance! Ich lass die Tür auf.«
    »Danke, mach’s gut!«, rief ich ihm nach und sah über die Schulter, wie er auf dünnen Beinen in einer vollendet gebügelten cremefarbenen Hose davonging.
    »On y va, Monsieur!«, hörte ich seinen Bass hinter den Berberitzen.
    Kaum war er weg, langte meine Mutter wieder herein. Ich schrak zurück, zuckte zusammen, als sie mir aufs Herz fasste und die Geldscheine in meine Brusttasche schob, wo schon Jesses Versichertenkarte war. Mit der Faust klopfte sie darauf, aber sofort zog sie die Hand zurück und stemmte sie in die Hüfte. Ich hörte sie, streng und dabei warm: »Nun mal hopp, hopp! Alles wartet auf dich!«
    Es war dieselbe Stimme, die Ira und mich aus dem Sumpf der Kindheit in den Morast der Jugend und weiter ins trockengelegte Moor der mittleren Jahre gelotst hatte.
    »Hast du die Zahnbürste eingepackt? Jesse, ja oder nein?«
    Der Junge ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und sank augenblicklich in sich zusammen. Er schwitzte. Er schwitzte wie nach einem Waldlauf durch bergiges Gelände und roch zugleich nach Schlaf. Ein Grollen war zu vernehmen, offenbar die Antwort auf die Zahnbürstenfrage.
    Und meine Mutter verstand sie.
    »Dann ist gut.«
    Ich lächelte ihr zu. Sie strich mir über die Stirn. »Mach’s gut. Pass auf ihn auf, und pass auch auf dich auf – warte!«
    Sie lief ums Auto und griff über die Beifahrertür nach Jesses Schläfen. Als sie seinen Kopf zu sich herangezogen hatte, hauchte sie ihm einen Kuss auf den goldenen Scheitel, dann schlug sie die Tür zu.
    Damit wir uns aneinander gewöhnten, war ich vor zwei Wochen mit Jesse zu einem HipHop-Konzert und ein paar Tage später zu einem Bundesligaspiel gegangen. Das Gefühl von einem Ausflug zu zweit hatte sich unter all den Leuten jedoch weder bei mir eingestellt, noch dürfte er es gehabt haben, und so war ich erst jetzt tatsächlich zum ersten Mal, seit Ira nicht mehr lebte, mit dem Jungen allein.

3
    N ach Iras Auffassung war der Zufall die Sprache der Welt. Jeder Stein und jeder Baum, jedes Tier und alle Menschen sprachen und verstanden sie. Musste nicht alles und jeder zu jedem Augenblick auf alles gefasst sein?
    Sie hatte das vor langer Zeit gesagt. Später redete sie von geborgten Lebensgefühlen, allumfassender Täuschung, Sinnleere statt Erfüllung. Immer seltener sagte sie etwas, meine verschwiegene Schwester. Deine schweigsame Schwester! Schweigeminuten, -stunden, -tage. Kein Ende des Schweigens abzusehen, und doch im Kopf,
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