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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition)
Autoren: Mirko Bonné
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das bis zu ihr durchgedrungen wäre.
    »Versuchen Sie es, indem Sie geduldig einatmen, Ira, ein und aus, ein und aus, und wieder ein …«, sagte ihr Arzt sehr ruhig, und das stimmte auch sie eine Zeit lang ruhig.
    Mir fielen nur Platitüden ein oder, wenn ich Hemingway las, Hemingway-Zitate, und bestenfalls fragte Ira dann, wie alt die Übersetzung war.
    Achselzucken. »Älter als wir wahrscheinlich, keine Ahnung. Sicher ist bloß, dass kein Pferd mit Namen ›Trübsal‹ je ein Rennen gewonnen hat.« Das sagte der todkranke Oberst in Über den Fluss und in die Wälder .
    Sie lächelte. Im Vorbeigehen strich sie mir über den Arm.
    »Bitte ruf Lewandowskis an. Die Nummer ist gespeichert.«
    Ich rief an. Jesses Bereitschaftspflegeeltern würden in den nächsten zwei Wochen da sein, der Junge konnte gern zu ihnen kommen. Lewandowskis hatten noch nie nein gesagt.
    Wenn Ira von Jesse erzählte, huschte über ihr Gesicht ihr Mädchenlächeln, das sich nie verändert hatte. Ich erkannte es, auch wenn es in dem Haus noch so finster war, und liebte es, gerade weil es so schwierig geworden war, sie zu lieben und nicht bloß Mitleid mit ihr zu haben. Wenn Ira lächelte, schienen mir die vielen gemeinsam verbrachten Jahre nicht verloren zu sein, vielleicht weil wir, wie als Kinder so oft, dasselbe dachten.
    Was mir allmählich dämmerte, wusste sie längst: Das Blatt, mit dem sich alles wenden würde, war für sie zu schwer. Jesse würde es anheben müssen, das für seine Mutter zu schwer gewordene Blatt würde er in die Höhe stemmen und die Seite umschlagen. Mit ihrem Sohn begann ein neues Kapitel.
    Anfangs war sie sich der Tragweite des Gedankens, der sich da in ihr festsetzte, vielleicht gar nicht bewusst. Mich packte eine rasende Angst um sie, sobald ich begriff, wie weit ihre Bereitschaft, sich aufzugeben, vorangeschritten war.
    Für sie hingegen war es schon lange Gewissheit: Indem sie ihrem Sohn die eigene Lebensaufgabe überantwortete, gab es für sie selber nichts mehr, was eine Anstrengung lohnte. Tragweite war da für sie längst kein Kriterium mehr.
    Gedanken an Ira hin und her wälzend saß ich vor der Wand, die das Letzte war, was sie gesehen hatte. Es waren Gedanken zum Weinen, düstere Vorstellungen voller Selbstanklagen, die ich zur Genüge kannte, mir aber nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Da sitzt du in deinem vollgepackten Wagen und starrst gegen eine Garagenwand. Guck durchs Fenster, dieses Bullauge. Draußen im Oktoberlicht blinken Käfer und Fliegen, während dir hier im Halbdunkel der einzige Mensch durch den Sinn geistert, den du liebgehabt hast. Wie willst du je aus diesem Schlamassel wieder rauskommen.
    Nach Iras Tod hatten meine Eltern das Haus in Schnelsen aufgegeben. Um Jesse den Übergang so einfach wie möglich zu machen, zogen sie zu ihm nach Wellingsbüttel und setzten dem Unglück das entgegen, worin sie Fachleute waren, das Meistern des Alltags. Nur die Garage klammerte ihr Pragmatismus aus. Sie war Tatort und Mahnmal, Tor zur Unterwelt und Schandfleck, ein unverständlicher Ort. Deshalb stand sie leer und wurde zu einem nach Benzin stinkenden Mausoleum, in das außer mir keiner einen Fuß setzte.
    Wenn ich die drei besuchte, stellte ich den Wagen übers Wochenende in die Garage. Bevor ich ins Haus ging, blieb ich so lange im Auto sitzen, bis der graue Steinquader mit seinem kreisrunden Fensterloch den Gruftcharakter verlor. Nach dem Abendessen ging ich vor die Tür, rauchte eine Zigarette und schloss die Garage noch einmal auf. Ich wuchtete das Tor in die Höhe, setzte mich ans Steuer, drückte im Ascher die Zigarette aus und wartete, dass sie sich einstellten: Meine Gedanken in Iras Garage waren immer dieselben. Manchmal dauerte es keine Minute, schon sah ich sie vor mir, wie sie rauchend in der Terrassentür stand, sah sie lächeln, ihr Mädchengesicht, ihre langen dünnen Beine in der Turnhalle bei einem Sportfest oder wie sie mit einer Freundin auf dem Gepäckträger nach Haus fuhr. Ich hörte ihre Stimme, die dunkel war und so wenig zu dem schmalen Körper passte. Unerklärlich langsam kam mir die Stimme meiner Schwester vor, wenn sie Sätze sagte, die so nur sie sagte.
    »Ist überhaupt jemand in der Lage, einen entscheidenden Augenblick zu erkennen?«
    Wenn das Wochenende vorbei war, setzte ich mich sonntagabends oder montagmorgens ins Auto und fuhr den Wagen ins Freie. Kaum war das Tor geschlossen, verschwanden Gedanken und Fragen, ganz so, als blieben sie bei meiner toten
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