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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition)
Autoren: Mirko Bonné
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Richtungen davongeweht war ihr die alte Nachtangst manchmal vorgekommen. In jedem fremden Land hatte die Schwärze versucht, sich im Dunkeln neu zu sammeln und zu bündeln und in sie einzudringen, so wie sie es immer gemacht hatte. Irgendwie aber war es anders gewesen als zu Hause. Die neuen Eindrücke, die fremde Sprache, die Leute hatten sie abgelenkt, und allmählich hatte sie vergessen, dass es etwas gab, was ihr Angst machte. In Rio fürchtete sie sich nicht mehr vor der Dunkelheit. Irgendwann fing sie an, auf Portugiesisch Selbstgespräche zu führen, in Netanja dasselbe, nur auf Hebräisch, und schon träumte sie in der neuen Sprache. Und bald war sie nicht mehr allein. Im Ausland blieb immer einer über Nacht, einer wie Dave oder Hector, der neben ihr lag und im Dunkeln redete oder zuhörte oder schnarchte.
    In Wellingsbüttel war es anders. In ihrem Haus war sie allein, auch wenn das Kind da war. Sie dachte an das Öl und dachte über das Öl nach. In ihrer Vorstellung überschwemmte es den Tank, dann den Keller und stieg schließlich durchs Haus. Tintig troff es über die Stufen, schwappte über Böden und Teppiche, manchmal floss es nachts ins Kinderzimmer, und sofort wurden die Wände davon grau. Überall eine graue Tinte, die mich an die Bilder erinnerte, die Degas an seinen grauesten Tagen gemalt hatte. Und so grau war man auch selber – ohne jedes Eigenleben, hatte Degas gesagt.
    Ira erzählte mir, sie sehe manchmal abends eine Alte, eine mausgraue Frau, die auf dem Gehsteig vorm Haus hin und her ging. Vielleicht eine Verwirrte, es gab doch in der Nähe, am Alsterlauf, ein großes Altenheim, sagte ich zu ihr. Sie glaubte das nicht.
    »Das Eigenleben verliert sich«, sagte sie. »Ich bin die Frau.«
    Und ich, ins Telefon: »Einbildung. Soll ich vorbeikommen? Hast du gegessen? Ich bring was mit. Wir können reden, oder einen Film gucken.«
    Sie wollte nichts essen, einen Film sehen auch nicht, vielleicht konnten wir Musik hören und uns unterhalten.
    »Ich fahre gleich los. Nimm solange ein Bad. Wie geht es Jesse? Schläft er schon?«
    Ja, der Kleine lag in ihrem Bett, er schlief.
    »Beruhig dich, bitte, versprich es.«
    »Ich versuche seit heute Morgen, mir bewusst zu machen, dass die Wände bloß Wände sind«, sagte sie. »Aber je mehr ich das versuche, umso weniger glaub ich meinen Gedanken. Markus, meine Gedanken, das sind doch gar nicht meine.«
    Wie den Augenblick, da das Blatt sich wendete, wie den Moment erkennen? War man denn in der Lage, einen Augenblick zu erkennen? Das hieße doch, sich auf den Zeitpunkt gefasst zu machen, da nichts mehr blieb, wie es eben noch war.
    Wenn ich an meine Schwester dachte, kamen mir die Fragen in den Sinn, die Ira und ich in den Nächten in ihrem Haus sinnlos hin und her gewälzt hatten. Es gab darauf keine Antworten. Es waren Fragen, die Antworten ausschlossen, und immer öfter beschlich mich das Gefühl, dass Ira sie nur deshalb stellte.
    »Wenn du dich in die Enge getrieben siehst, wenn sich alles, aber auch alles gegen dich verschworen zu haben scheint und du meinst, nicht eine Minute länger kannst du es aushalten vor dieser Wand, woher willst du dann die Kraft nehmen, das alles als Trugschluss zu durchschauen?«
    Ich wusste nichts zu erwidern. Ich konnte ihr nicht folgen und wollte Ira auch gar nicht folgen bis vor die graue Wand.
    »Hör auf, dir das Hirn zu zermartern. Nimm deine Tabletten, nimm sie regelmäßig. Geh zum Arzt. Geh zu der Gruppe, wo du früher warst, das war doch immer gut. Lass dich von dem negativen Kram nicht so anfressen und runterreißen.«
    Meistens hatte ich nur Phrasen gedroschen.
    »Ich weiß«, lautete für gewöhnlich ihre Antwort, sobald sie sich müde geredet hatte, »ich weiß ja« – was zwar genauso mechanisch klang, dafür aber ehrlich war. Und es folgte ihr Seufzen, bei dem es mir den Magen umdrehte, oder noch schlimmer das traurige Lächeln, mit dem sie in der Terrassentür stand und den Zigarettenrauch in die Nachtluft blies.
    »Du musst Lewandowskis anrufen«, sagte sie. »Bitte mach du das. Ruf sie an und frag sie, ob er die nächsten zwei Wochen bei ihnen sein kann.«
    Bevor ich nur an Jesse gedacht hatte, redete sie von ihm. Ihren Kummer sah sie mit seinen Augen, aus seinem Blickwinkel. »Wie als Mutter deinem Kind begreiflich machen, dass du in jedem Zimmer, auch in seinem, einen Abgrund siehst?«
    Ihre verrätselten Fragen machten sie mir fremd und fremder. Ich hatte schon so lange nichts mehr zu ihr gesagt,
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