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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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können. Dies taten wir nicht, um uns zu beschämen und zu beschimpfen, um uns zu erniedrigen. Wir haben es getan, weil wir uns beistehen müssen, wenn wir Umkehr finden wollen. So wie wir uns helfen mussten, als wir den aufrechten Gang zu erlernen hatten. Beides sind Akte der Befreiung: Auflehnung gegen Unterdrückung wie Übernahme von Verantwortung in Freiheit – Schritte auf dem Weg zur Subjektwerdung.
    Als die Leipziger uns lehrten, Verlorengegangenes wieder zu sehen und auszusprechen »Wir sind das Volk!«, war aus der Verfügungsmasse der Mächtigen das geworden, was Demokraten nach der Abdankung der Könige den Souverän nannten. Wenn wir uns daran erinnern, wie der Untertan zum Souverän wurde, steckt darin auch die Ermutigung, weiter jene Haltung abzulegen, die durch Fesseln und Ketten in uns erzeugt worden ist. Dies wird ein langer Prozess sein. Denn zwei Generationen der Bürgerinnen und Bürger, die im Osten lebten, haben von 1933 bis 1989 als Gebundene gelebt. Und weil wir die Fesseln und die Ketten so lange getragen haben, wird es auch lange dauern, bis wir den freien Atem und die aufrechte Haltung erlernt haben werden.
    Wir haben mit dem Motiv des Dankes begonnen, wir schließen auch damit. Wir schließen mit dankbarem Erzählen. Ich erinnere gern an Plauen. Diese Stadt steht heute für alle anderen unseres ehemaligen kleinen Landes. Es ist der 7. Oktober 1989, Staatsfeiertag. Am Abend wird weit über das Vogtland hinaus bekannt sein: Hier haben fast zwanzigtausend Menschen für die Demokratie demonstriert!
    Dabei war es nur eine kleine Gruppe, die es gerade schaffte, einige wenige Handzettel herzustellen mit einer einfachen Schreibmaschine. Doch die Wiedergeburt des Souveräns in Plauen vollzog sich, als dieser kurze Text der »Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft« formuliert wurde:
    Bürger der Stadt Plauen!
    Am 7. Oktober findet auf dem Plauener Theaterplatz
    eine Protestdemonstration statt!
    Unsere Forderungen lauten:
    –Versammlungs- und Demonstrationsrecht
    –Streikrecht
    –Meinungs- und Pressefreiheit
    –Zulassung der Oppositionsgruppe »Neues Forum« sowie anderer unabhängiger Parteien und Umweltgruppen
    –Freie, demokratische Wahlen
    –Reisefreiheit für alle
    Bürger! Überwindet Eure Lethargie und Gleichgültigkeit! Schließt Euch zusammen! Es geht um unsere Zukunft! Informiert die Arbeiter in den Betrieben!
    Nach der Massendemonstration war in Plauen neues Selbstbewusstsein entstanden. Es hat uns selbst im fernen Rostock geholfen, als wir unsere Gottesdienste und Demonstrationen organisierten. Ich erinnere mich an das befreite Lachen, als ich eine Erklärung vorlas, die wir aus Plauen erhalten hatten. In dieser Erklärung protestierte die Freiwillige Feuerwehr gegen den Einsatz von Tanklöschfahrzeugen, mit denen gegen die Demonstranten vorgegangen werden sollte:
    Das zweckentfremdete Einsetzen von Tanklöschfahrzeugen als Wasserwerfer gegen fast ausschließlich friedliche, unbewaffnete Bürger und Kinder vereinbart sich auf keine Weise mit den Aufgaben der Feuerwehr entsprechend Brandschutzgesetz vom 19. 12. 1974!
    Durch diesen Einsatz der Löschfahrzeuge ist das gute Ansehen der Feuerwehr auf das Gröbste geschädigt worden sowie keine Vertrauensbasis mehr vorhanden!
    Die Freiwillige Feuerwehr Plauen wird, bis ein Vertrauensverhältnis Bürger – Feuerwehr wieder entstanden ist, keine Maßnahmen im vorbeugenden Brandschutz durchführen, da ich als Wehrleiter die Gefährdung meiner Kameradinnen und Kameraden durch verständliches emotionales Verhalten der Bürger nicht verantworten kann!
    Die Einsatzbereitschaft der Freiwilligen Feuerwehr Plauen zur Brandbekämpfung bleibt gewährleistet.
    …
    Wir erwarten zu diesen Maßnahmen eine Stellungnahme der staatlichen Organe!
    Gerold Kny
    Wehrleiter
    So konnte man es also auch machen. So eine Tat wirkte ansteckend. Ob Gerold Kny überhaupt weiß, dass wir in Mecklenburg mit ihm verbunden waren?
    Sehr verehrte Damen und Herren,
    Erinnern kann beides enthalten: Zumutung und Geschenk. Wer die Zumutungen fürchtet und einen Schlussstrich zwischen uns und das Vergangene setzen möchte, der erspart sich für den Augenblick zwar Schmerzen. Er verkennt aber, dass uns aus Wissen auch Kräfte erwachsen, die uns die Gestaltung der Zukunft erleichtern. Das Deutschland, das wir nach der Einheit geschaffen haben, enthält fast alles, wofür wir 1989 gekämpft haben.
    Und dennoch ist es voller Unzulänglichkeiten und
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