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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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fünf, sechs Leute zu inhaftieren. Ein Delikt fand sich leicht. Meinem Vater und allen anderen machte man einen kurzen Prozess. Einige erhielten zweimal fünfundzwanzig Jahre wie mein Vater, andere zweimal zehn Jahre, das war so eine Art Freispruch. Andere wurden zu zweimal fünfzig Jahren verurteilt, manche sogar zum Tode.
    Hätte es nicht Freunde gegeben in Ost und West, wäre neben der Sorge um den Vater auch Hunger gewesen.
    Ich geriet damals in einen offenkundigen Widerspruch zum Staat. Mein jugendlicher Antikommunismus war klar und heftig. Dazu ist zu sagen: Es gibt zwei Arten von Antikommunismus – den einen, der aus Vorurteil und Ressentiment hervorgeht, und einen anderen, der aus Leiden, Erkennen und Sensibilität entsteht. Viele Leute können diese zwei Arten nicht auseinanderhalten. Ich vermochte diese Unterscheidung auch nicht immer zu treffen und habe, als ich erwachsen wurde, meinem jugendlichen, aus leidvoller Erfahrung erwachsenen Antikommunismus entsagt. Es kursierte damals ein Thomas Mann zugeschriebenes Diktum, das jeder Student in der verkürzten Form kannte. »Der Antikommunismus ist die Grundtorheit der Epoche.« Also habe ich, haben wir uns von der sicheren Urteilsfähigkeit aus dem gelebten Leben und der Nähe zur Realität verabschiedet. Ich bin übergewechselt auf linksprotestantische Wege, andere sind in die SED gegangen – sei es, weil sie dort etwas besser machen, sei es, weil sie ihre Ruhe haben wollten. Bei mir wurde die Wandlung beeinflusst durch die Rezeption der Arbeiten von Ernst Bloch, insbesondere durch sein Werk Das Prinzip Hoffnung – zugleich auch durch meine linksprotestantischen Freunde aus Norddeutschland und aus Bayern.
    Einige dieser Linken waren so theorielastig, dass sie bei uns im Osten als Lehrer des Marxismus auftraten. Es war dann immer sehr bewegend, wenn uns Hamburger oder Nürnberger Pastoren lehrten, wie nützlich der Sozialismus für die armen Menschen in Afrika oder Südamerika sei. Wir konnten das zwar nicht glauben, aber da die Leute belesener wirkten als wir, dachten wir: Wir haben zwar schlechte Erfahrungen mit Ulbricht und Honecker und der ganzen Mischpoke hier, aber wenn die westdeutschen Linken von der Zukunft des Sozialismus in armen Ländern überzeugt sind, dann muss es wohl stimmen. So sind wir dazu gekommen, unseren gesunden Menschenverstand, der auf einer realitätsbezogenen Analyse basierte, teilweise aufzugeben.
    Diese Sozialismusrezeption machte uns zwischenzeitlich glauben, die hehre Theorie werde die krude Wirklichkeit bald ablösen. So entstand eine heimatlose Linke innerhalb der Partei, in parteinahen Zirkeln oder Künstlerkreisen, aber auch unter Normalbürgern. Auch ich wollte damals ein »aufgewecktes Kerlchen« sein, ein »moderner« Pfarrer. So gab ich meinen gesunden Antikommunismus auf zugunsten eines idealistischen Anti-Antikommunismus.
    Für mich ist dieser Irrtum im Nachhinein interessant und auch beschämend. Ich hätte zahlreiche Dinge weitaus früher erkennen können als erst 1989. Bei einer kritischen Prüfung sind mir auch unendlich viele andere Menschen begegnet, vorwiegend Intellektuelle, die sowohl während der NS-Zeit als auch während der kommunistischen Zeit durchaus mehr hätten erkennen können. Intellektuelle biedern sich häufig bei den Mächtigen an.
    Das zurückliegende Jahrhundert ist das Jahrhundert der verweigerten Wahrnehmung. Aus ihr resultiert regelmäßig ein Defizit an Zivilcourage. Was das bedeutet, haben wir in den ostdeutschen Landstrichen ja zweimal erlebt. Den Umschwung nach dem bleiernen Sommer 1989, in dem sich nichts bewegte, habe ich daher so gut in Erinnerung behalten. Die Genossen hofften, dass sich etwas von oben, wir hofften, dass sich etwas von unten bewegen würde. Was sich dann wirklich bewegte, waren die Beine der jungen Leute, die ihre Rucksäcke packten und über die Grenze nach Ungarn und Prag gingen. Das Erwachen von Mut werde ich nie vergessen.
    In der Diktatur lernt man, seine negativen Gefühle zu bändigen, sie zu zähmen und nicht zu zeigen. Es gibt ein sozialistisches Pokerface, das wir noch alle kennen. Manche haben sich das so gut eingeprägt, dass sie es ihr Leben lang nicht mehr loswerden. Es war oft nicht zu erkennen: Waren beispielsweise die Akademiker im Parteilehrjahr oder in der Schule der sozialistischen Arbeit kritisch – oder ganz ernsthaft bei der Sache?
    So ähnlich wie bei der jährlichen Demonstration am 1. Mai, wo wir alle fluchten, aber vor der Tribüne den
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