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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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für ein erprobtes Politikmodell, für die parlamentarische Demokratie, für die damals Helmut Kohl stand. Dies war ein für uns imponierendes Politikmodell, denn niemals in der Geschichte dieser Nation hat es einen Zeitraum mit vierzig Jahren Demokratie und Freiheit gegeben. Es gibt eben Phasen, da kommt die politische Ratio nicht von den Kathedern der Gelehrten, sondern von der sich ermächtigenden Bevölkerung.
    Ich begann für die Einheit zu werben. Ich habe am 4. Dezember sogar die Stasi-Besetzung in Rostock versäumt, weil ich die ganze Nacht mit den Aktivisten des Umsturzes über die deutsche Einheit diskutiert habe. Wir entschieden uns im Rostocker »Neuen Forum« tatsächlich dafür, dass wir Teil des Volkes sein und die Einheit positiv mitgestalten wollten. Mit diesem Auftrag bin ich im Januar 1990 in die erste DDR -weite Versammlung des »Neuen Forums« gegangen. Wir haben mit einer sehr großen Mehrheit in die Grundsatzpapiere geschrieben, dass wir die Einheit Deutschlands zu unserem politischen Ziel erklären. Der Gedanke von Günter Grass, wegen Auschwitz müsse Deutschland geteilt bleiben, wurde gestrichen. Es erschien uns eine aberwitzige – eine »westliche« – Idee, Auschwitz de facto als Strafe für die Ostdeutschen zu verstehen.
    Ich bin voller Bewegung darüber, wie durch einfache Fragen von Krankenschwestern und Werftarbeitern auch mir lange schlüssig erscheinende Konzepte zu Staub zerfielen. Was wollten wir denn noch aus der DDR bewahren? Vollbeschäftigung? Ja, solange wir uns brav verhielten, waren wir beschäftigt. Aber für wen war diese Vollbeschäftigung gut? Was hat sie uns gekostet? War sie von einem vernünftigen Wirtschaftskonzept getragen? Ich weiß, dass die Fähigkeit und Möglichkeit, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, ein Gefühl des Gebrauchtwerdens hervorruft, auch wenn diese Arbeit keinen rechten Sinn macht. Die Beschäftigungspolitik in der DDR war aber unökonomisch. Eine Gesellschaft kann nicht auf Dauer gegen ökonomische Gesetze verstoßen. Wir haben auf Pump gelebt. Wer das nicht wahrhaben will, der schaue sich die Arbeiten von Gerhard Schürer an, dem Planungschef der SED , der im Herbst 1989 gesagt hat, wie rasch Heulen und Zähneklappern ausgebrochen wären, wenn die DDR noch weiter existiert hätte.
    Heute hört man vielfach, wir hatten eine solidarische Gesellschaft in der DDR . Das stimmt. Aber es war eine Solidarität gegen die Herrschenden und gegen die verordnete Ohnmacht. Es war der Beistand derer, die sich beistehen mussten, um das Leben erträglicher zu gestalten. Das war nicht Ausdruck einer Staatspolitik, denn die Staatspolitik hatte uns Grundrechte genommen, die in anderen Ländern längst galten. Die Solidarität, deren Verlust wir heute manchmal so beklagen, war eine Solidarität gegen unsere Beherrscher.
    Aber sie umfasste bei Weitem nicht alle.
    Immer wenn ich an einer Universität spreche, muss ich voller Bitterkeit sagen: Wie schön wäre es gewesen, liebe Herren Professoren, wenn ich die Hälfte von Ihnen 1989 in der Rostocker Marienkirche gesehen hätte. Es wäre schön gewesen, wenn nicht nur Jugendliche, Punker oder Künstler, sondern wenn auch Professoren öffentlich gesagt hätten: »Mir reicht es jetzt!« Denken Sie, im Oktober oder November 1989 wäre ein einziger Professor zu uns gekommen? Ich habe gesucht – wir haben in Rostock eine große Universität – und auch im akademischen Mittelbau gefragt. Da fand ich endlich eine Frau mit Doktortitel. Das war Christine Lucyga, 10 die später im Rostocker Wahlkreis für die SPD arbeitete. Als sie dabei war, folgte der nächste Assistent – und schließlich kam selbst der eine oder andere Professor. Aber mancher sagte auch: »Wenn ich mir so ansehe, was in Dresden los war: Ist das nicht ein bisschen zu riskant?« Hätten sie doch einfach gesagt: »Ich habe Angst. Ich habe so lange gebraucht, um Professor zu werden; wenn ich wüsste, dass es gutgeht, würde ich ja mitkommen. Aber da Widerstand bisher immer fehlschlug – am 17. Juni 1953, 1956 in Budapest und 1968 in Prag –, habe ich Angst. Warum soll das jetzt anders sein, bloß deshalb, weil Gorbatschow dahintersteht?« Ich hätte für diese Angst mehr Verständnis gehabt als für die vielen vorgeschobenen Gründe.
    Im Rückblick sage ich: Die DDR war nicht nur überflüssig, sondern schädlich für uns. Ich sage das, obwohl ich weiß, dass unter den vielen Machthabern und Unterdrückern eine Reihe von sensiblen und ehrlichen, an einen
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