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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Mächtigen, die die illegitime Machtausübung der SED -Elite stabilisieren sollten, in Frage zu stellen. Sie hatten den Mut, die Mächtigen zu delegitimieren.
    Bei dem Stichwort Delegitimierung denken wir auch an eine Aktion, die Zivilcourage Einzelner wie das Engagement zahlreicher Gruppen in der DDR deutlich macht – in der Regel durch Einbeziehung des kirchlichen Netzwerkes. Ich meine die Kontrolle der Kommunalwahlen vom Mai 1989. Wie viele hatten den Wahlergebnissen immer misstraut. Hier endlich, lange vor dem revolutionären Tun, beschloss eine qualifizierte Minderheit in sehr vielen kleineren und größeren Städten, eine Form der Volkskontrolle zu organisieren, die bislang immer als sinnlos erachtet worden war. Für die Behauptung, die Wahlen seien gefälscht, konnten tatsächlich ausreichend viele Daten gesammelt werden. Es ist unmöglich, die Personen und Orte aufzuzählen, die beteiligt waren. Zwei Regionen seien nur erwähnt: Berlin, wo es seit Jahren eine lebendige Protestkultur gab, leitete noch in DDR -Zeiten eine Strafanzeige wegen Wahlfälschung ein. Und Halle will ich erwähnen. Der jungen Frau wegen, an die ich erinnern möchte – einer Wahlkontrolleurin. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich weiß, dass sie damals siebenundzwanzig Jahre alt war. Ich weiß ihren Beruf: Sekretärin in einer Sparkassenfiliale. Sie gehörte zum Personal der offiziellen Datenerfassung. Als sie erlebte, wie die Anweisung ausgegeben wurde, telefonisch eingehende Zahlen mit Bleistift einzutragen, stutzte sie. Man versuchte, erstens: Sie mit einer erfundenen Begründung ruhigzustellen, und als das nichts nutzte, sie – zweitens – aus dem Informationsfluss auszugliedern. Vom Zeitpunkt ihrer Kritik an klingelte bei der jungen Frau kein Telefon mehr, die Daten liefen an ihr vorbei. Wir rühmen diese Frau nicht nur, weil sie bemerken wollte , was sie bemerken konnte , auch das ist schon rühmenswert. Wir rühmen sie wegen ihrer Zivilcourage, den jungen Leuten der selbst ernannten Kontrollgruppe mit Namen und Adresse ihre Informationen zu Protokoll gegeben und später im Gerichtsverfahren als Zeugin in dieser Sache zur Verfügung gestanden zu haben.
    Liebe ostdeutsche Landsleute, ohne weiteren Kommentar merken wir, dass diese Frau auf dünnem Eis ging. Aber weil sie ging, weil sie nicht einbrach, weil andere ihr dabei halfen, deswegen sei an ihren Fall erinnert. Wir wissen nicht, was genau sie zu oppositionellem Denken und Handeln bewogen hat. Wir machen aber bei ihr exemplarisch einen Entscheidungsfreiraum und einen Entscheidungswillen aus, der von vergleichbaren Mitbürgern weder gesehen noch gewollt wurde.
    Der Sinn dieses Vortrags besteht hauptsächlich darin, die enorme Rolle der Erkenntnis Ich habe eine Wahl zu betonen. Sie gilt selbstverständlich in Demokratien – unabhängig davon, wie ernst sie im Einzelnen genommen wird. Aber sie galt und gilt auch in Diktaturen: im Stalinismus wie im Nationalsozialismus; hier waren die Möglichkeiten der Wahl allerdings drastisch reduziert gegenüber den unsrigen heute.
    Angeblich konnten nur Märtyrer und Helden, derer die kommunistische wie die bürgerliche Welt in begrenzter Anzahl gedachten, etwas tun. Wie haben wir sie verehrt für dieses Heldentum, haben sie uns doch erlaubt, Frieden oder Waffenstillstand mit dem beschmutzten Vaterland zu schließen. Aber wir selber verstanden uns nicht als Helden und fühlten uns nicht zu Märtyrern berufen.
    So wurde für die Masse aus der Frage »Was konnten wir denn tun?« eine Rechtfertigung, ein quasi normatives Überlebens- und Karriererezept: Wir konnten nichts tun, denn die da oben diktierten es immer anders. Und je enger wir dieser normativen Leitlinie unser eigenes Leben anpassten, desto besser war für unser Fortkommen gesorgt. Es ist die einfache Wahrheit der Diktatoren: »Beuge dein Haupt, und du brauchst nichts zu fürchten und wirst es gut haben.«
    Wenn wir aber die Zeiten der Diktatur wirklich erinnern wollen, begegnet uns gelebtes Leben nicht in derart fataler Uniformität. Wir gelangen sehr bald zur Gewissheit: Die Nächte der Diktatoren waren nie schwarz genug, um alle Katzen grau zu machen!
    Deshalb will erzählt sein, was gelungen ist. Den Deklassierten auch die geringsten Siege zu nehmen, kann nur eine weitere Entmutigung zur Folge haben. Wir brauchen also eine Kultur des Erzählens und Berichtens über widerständiges Verhalten. Wir wollen endlich besser lernen, dass das Verbeugen und Versagen trotz seiner großen
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