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Nibelungen 05 - Das Runenschwert

Titel: Nibelungen 05 - Das Runenschwert
Autoren: Jörg Kastner
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kräftigen Körper reckte, sich vorbeugte und auf das düstere Land voraus starrte, das sich in sanften Wellen hinzog, bis es irgendwo in weiter Ferne mit dem Nachthimmel verschmolz. Der Jüngling strich eine Tolle seines sandfarbenen Haares aus der Stirn und strengte die Augen an.
    Da frischte der Wind auf und blies kalt über sein knochiges Antlitz und über die nackten Arme, die aus dem ärmellosen Lederwams lugten. Es schien ihm auf einmal ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, und er verwünschte seine Hast, in der er ohne einen Umhang losgeritten war. Seltsam: Er spürte die Kälte erst hier in den einsamen Wäldern. Auf der Schwertburg war es ihm wie eine laue Sommernacht erschienen.
    Doch die Schwertburg lag weit zurück. Siegfried suchte jetzt die alte Königsburg, die man auch die Wolfsburg nannte, irgendwo im Westen. Doch wo war Westen in diesem Meer aus Finsternis?
    Die Umrisse von Felsgruppen und Wäldern zeichneten sich deutlicher ab. Zufrieden erkannte der Reiter, daß der Wind die Wolken vertrieben hatte, die sich zwischen die Gestirne und das Land geschoben hatten wie ein Schild zwischen Leib und feindliche Klinge.
    Und dann sah er auch den einzelnen mächtigen Baum, der sich auf einem Hügel erhob, mitten aus einem großen Felsen wuchs, wie es schien. Aber es war kein Felsen. Der Reiter erkannte Türme und Zinnen.
    »Die Wolfsburg!« flüsterte er andächtig. »Wind, Mond und Sternen sei Dank!«
    Schon wollte er die Fersen in die Flanken des grauen Hengstes drücken, da fiel ein riesiger Schatten auf Mann und Pferd. Ein Schemen, der geradewegs aus dem Himmel zu fallen schien und den fast vollen Mond verdunkelte. Als der Jüngling den Kopf in den Nacken legte, sah er die Gestalt eines Vogels – eines großen Raubvogels. Seine schwarzen Umrisse zeichneten sich deutlich vor der gelben Mondscheibe ab; er schien genau über dem Reiter zu schweben.
    Reinhold hatte ihn in allen Bereichen der Jagd unterwiesen, und so erkannte der Reiter an den Flügeln sofort den Falken.
    Aber das war unmöglich!
    Der Falke jagte doch bei Tag!
    Außerdem war das Tier ungewöhnlich groß, größer noch als ein Steinadler! Oder war es eine Täuschung, hervorgerufen durch das unwirkliche Mondlicht?
    Siegfried wischte mit dem Handrücken über seine Augen und sah erneut den Mond an. Das helle Rund erstrahlte ungetrübt.
    Aber der Riesenvogel war verschwunden! Als wäre er niemals dagewesen. Vergeblich suchte der Reiter den Himmel ab.
    »Vielleicht doch nur eine Wolke, vertrieben und zerfetzt vom Wind«, flüsterte er.
    Endlich trieb er sein neues Pferd an, den Hügel hinab. Wer wußte schon, wann die nächsten Wolken kamen und die Sicht erschwerten. Das Licht der Gestirne mußte er ausnutzen, um den Weg durch die bewaldete Schlucht zu finden – den Weg zur Wolfsburg.
    Die alten Bäume im Tal, hoch und wuchtig, hielten das Nachtlicht zurück. Der Reiter fühlte sich, als zöge er mitten durch ein Heer von Riesen, die nur darauf warteten, auf ihn einzuschlagen. Mit jedem Schritt des Pferdes kam Bewegung in die Giganten, wurden die großen Äste zu Keulen schwingenden Armen. Aber kein Schlag traf den Reiter, und endlich lag der Hügel mit der alten Königsburg vor ihm. Traurig blickten leere Fensteraugen ins endlose Waldland.
    Das Gemäuer war halb zerfallen, aber auf den Jüngling wirkte es erhaben. Schließlich war dies der Stammsitz seines Geschlechts, wenn auch seit vielen Menschenaltern verlassen. Die Burg erweckte den Anschein, als hätten Menschenhand und Naturgewalten bei ihrer Erbauung zusammengewirkt. Sie wuchs geradewegs aus dem Fels heraus. Kaum war zu sagen, wo das Felsgestein aufhörte und das Mauerwerk begann. Die zerfallenen Mauern verbanden sich an den Rändern schon wieder mit wucherndem Strauchwerk. Unbeirrbar holte sich Mutter Natur das von den Menschen geraubte Land zurück. Die riesige Eiche, die sich aus der Ruine in den nächtlichen Himmel reckte, erschien ihm als Zeichen überlegener Naturgewalt.
    Es war der Kinderbaum – der Schwertbaum!
    Bald würde er das Runenschwert in Händen halten. Schon die Vorfreude darauf war ein gutes, erregendes Gefühl.
    Aus noch einem anderen Grund hob der Anblick seine Stimmung: Er hatte den Weg zur Wolfsburg in der Nacht gefunden – unbehelligt! So waren all die Geschichten um böse Wölfe, die um die Burg streifen sollten, nichts als Ammenmärchen.
    Siegfried stieß ein lautes, befreiendes Lachen aus. Es tat gut, in dieser Grabesstille eine menschliche Stimme zu
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