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Nexus

Nexus

Titel: Nexus
Autoren: Henry Miller
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Jugendfreund oder ein herrlicher Jux erwähnt, an dem sie beide ihre Freude hatten, nie reden sie von einer Straße, die sie gern hatten, einem Park, in dem sie spielten, oder einem Spiel, das sie besonders liebten. Ich habe sie schlankweg gefragt: «Könnt ihr Schlittschuhlaufen? Könnt ihr schwimmen? Habt ihr je Hopse gespielt?» Ja, das alles können sie oder haben es getan, und noch mehr. Warum nicht? Aber sie vermeiden es streng, in die Vergangenheit zurückzuschlüpfen. Nie erwähnen sie, wie man es oft in lebhafter Unterhaltung tut, ein sonderbares oder aufregendes Erlebnis aus der Kindheit. Dann und wann erzählt die eine oder die andere, sie habe einmal den Arm gebrochen oder sich den Fuß verstaucht, aber wo, wann? Immer wieder bemühe ich mich, sie sanft unter gutem Zureden zurückzuführen, wie man ein Pferd in den Stall führt, aber vergeblich. Einzelheiten langweilen sie. Ist es nicht ganz nebensächlich, so fragen sie, wann oder wo das passierte? Gut also, Abteilung kehrt! Ich bringe die Rede auf Rußland oder Rumänien, in der Hoffnung, einen Schimmer oder einen Strahl der Erinnerung zu entdecken. Ich tue das obendrein sehr geschickt, indem ich mit Tasmanien oder Patagonien beginne und nur allmählich und auf Umwegen auf Rußland, Rumänien, Wien und Brooklyn komme. Als wenn sie nicht den leisesten Argwohn über mein Vorgehen hätten, beginnen auch sie plötzlich von fremden Ländern zu sprechen, Rußland und Rumänien eingeschlossen, aber so, als gäben sie etwas wieder, was sie von einem Ausländer gehört oder in einem Reisebuch gelesen hätten. Stasia, die etwas geschickter ist, mag sogar so tun, als gäbe sie mir einen Fingerzeig. Es fällt ihr zum Beispiel ein, mir eine angebliche Begebenheit aus Dostojewski zu erzählen, im Vertrauen auf mein schwaches Gedächtnis oder auch, daß ich selbst bei einem guten unmöglich die Tausende von Ereignissen im Kopf behalten kann, die Dostojewskis dicke Bände füllen. Und wie kann ich wissen, daß sie mir nicht den echten Dostojewski vorsetzt? Weil ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis für die Aura gelesener Bücher habe. Ich erkenne sofort, ob eine Stelle für Dostojewski charakteristisch ist oder nicht. Um sie aufs Glatteis zu führen, tue ich jedoch so, als erinnere ich mich an die Begebenheit, die sie berichtet, nicke zustimmend, lache, klatsche in die Hände, alles, was sie will, aber ich lasse mir nie anmerken, daß ich ihre Erfindungen erkenne. Dann und wann jedoch erinnere ich sie in derselben spielerischen Weise an eine Kleinigkeit, über die sie hinweggegangen ist, oder eine Verdrehung des Tatbestandes. Ich streite mich mit ihr sogar lange herum, wenn sie behauptet, daß sie die Begebenheit richtig wiedergegeben hat. Und die ganze Zeit sitzt Mona da und hört aufmerksam zu, ohne eine Ahnung zu haben, was wahr und was falsch ist, aber überglücklich, weil wir von ihrem Idol, ihrem Gott - von Dostojewski sprechen.
    Wie reizvoll und wie köstlich kann diese Welt von Lügen und Falschheiten sein, wenn man nichts Besseres zu tun hat und nichts auf dem Spiel steht! Sind wir nicht wundervoll - wir kecken, frechen Lügnerinnen? «Schade, daß Dostojewski nicht selbst bei uns ist!» ruft Mona manchmal aus. Als ob er alle diese verrückten Leute, alle diese närrischen Szenen, die in solcher Fülle in seinen Romanen zu finden sind, erfunden hätte. Ich meine, erfunden zu seinem eigenen Vergnügen, oder weil er ein geborener Narr und Lügner war. Nicht einmal dämmert es ihnen, daß sie die «verrückten» Charaktere in einem Buch sein könnten, das vom Leben mit unsichtbarer Tinte geschrieben wird.
    Es ist daher nicht sonderbar, daß fast jeder, Mann oder Weib, den Mona bewundert, «verrückt», oder daß jeder, den sie verabscheut, ein «Narr» ist. Doch wenn es ihr einfällt, mir ein Kompliment zu machen, nennt sie mich immer einen Narren. «Du bist ein so lieber Narr, Val!» Womit sie meint, ich sei erwachsen und kompliziert genug, um, wenigstens ihrer Schätzung nach, zur Welt Dostojewskis zu gehören. Manchmal, wenn sie von meinen ungeschriebenen Büchern schwärmt, versteigt sie sich sogar zu der Behauptung, ich sei ein zweiter Dostojewski. Schade, daß ich nicht dann und wann einen epileptischen Anfall hinlegen kann! Das würde mir erst das richtige Ansehen verschaffen. Leider wird der Zauber meistens dadurch gebrochen, daß ich allzu schnell zu einem «Bürger» entarte. Mit anderen Worten, ich werde zu neugierig, zu kleinlich, zu unduldsam.
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