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Nexus

Nexus

Titel: Nexus
Autoren: Henry Miller
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Veilchen. Kein Gedanke an Schnee oder Eis, sie kümmerten sich nicht um die Polarwinde, die vom Fluß herwehten, sie fürchteten weder Gott noch Menschen. Lachend, schwatzend, summend schlenderten sie dahin. Frei wie Feldlerchen.
    Hört, hört, die Lerche am Himmelstor singt!
    Ich folgte ihnen eine Weile, beinahe angesteckt von ihrer lässigen Bummelei. Plötzlich bog ich scharf links ab in Richtung auf Osieckis Wohnung zu. Besser ausgedrückt—sein «Büro». Tatsächlich, es brannte Licht, und das Pianola spielte leise Morceaux Choisis von Dohnanyi.
    «Heil euch, süße Läuse!» dachte ich und ging weiter. Drüben über dem Gowanus-Kanal stieg Nebel auf. Wahrscheinlich schmolz dort ein Gletscher.
    Als ich heimkam, war sie dabei, ihr Gesicht einzucremen.
    «Wo in Gottes Namen bist du gewesen?» fragte sie beinahe vorwurfsvoll.
    «Bist du schon lange daheim?» entgegne ich.
    «Bereits einige Stunden.»
    «Sonderbar. Ich könnte schwören, daß ich erst vor zwanzig Minuten fortgegangen bin. Vielleicht habe ich einen Anfall von Schlafwandeln gehabt. Komisch, aber ich meine, ich sah dich und Jim Driscoll Arm in Arm gehen ...»
    «Val, du mußt krank sein!»
    «Nein, nur angeheitert. Von innen her, meine ich. Es kann eine Sinnestäuschung gewesen sein.»
    Sie legt mir eine kalte Hand auf die Stirn, fühlt meinen Puls. Es ist anscheinend alles normal. Es ist ihr ein Rätsel. Warum erfinde ich solche Geschichten? Nur um sie zu quälen? Haben wir nicht schon Sorgen genug, wo Stasia im Irrenhaus und die Miete noch nicht bezahlt ist? Ich sollte mehr Rücksicht auf sie nehmen. Ich gehe zum Wecker und deute auf die Zeiger. Sechs Uhr. «Ich weiß», sagte sie.
    «Du warst es also nicht, die ich vor ein paar Minuten gesehen habe?»
    Sie sieht mich an, als wäre ich dem Irrsinn nahe.
    «Mach dir keine Gedanken darüber», zirpe ich. «Liebste, ich habe die ganze Nacht Champagner getrunken. Ich bin mir jetzt sicher, du warst es nicht, die ich gesehen habe, es war dein Astralleib.» Pause. «Stasia ist jedenfalls okay. Ich habe gerade eine lange Unterredung mit einem Stationsarzt gehabt...»
    «Du . . .?»
    «Ja. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, dachte ich mir, ich könnte mal rübergehen und sehen, wie es ihr geht. Ich habe ihr Charlotte russe gebracht.»
    «Du solltest zu Bett gehen, Val, du bist erschöpft.» Pause. «Wenn du wissen willst, warum ich noch so spät auf bin, will ich dir's sagen. Ich habe mich gerade von Stasia verabschiedet. Ich habe sie vor etwa drei Stunden herausgeholt.» Sie kicherte in sich hinein - oder war es mehr ein Gegacker? «Ich werde dir morgen alles erzählen. Es ist eine lange Geschichte.»
    Zu ihrem Erstaunen erwiderte ich: «Das hat Zeit, ich habe mir soeben die ganze Geschichte erzählen lassen.»
    Wir drehten das Licht aus und krochen ins Bett. Ich konnte hören, wie sie sich ins Fäustchen lachte. Zum Schluß gab ich ihr einen kleinen Nasenstüber zum Einschlafen und flüsterte: «Bertha Filigran vom Titicaca-See.»
    Oft, nach einer Sitzung mit Spengler oder Elie Faure, warf ich mich angekleidet aufs Bett und wühlte mich, anstatt über alte Kulturen nachzudenken, durch ein Labyrinth von Lügen und Falschheiten. Keine von beiden scheint fähig, die Wahrheit zu sagen, selbst nicht über eine so einfache Angelegenheit wie auf die Toilette gehen. Stasia, eine im Grunde wahrheitsliebende Seele, nahm diese Gewohnheit an, um Mona zu gefallen. Selbst in der phantastischen Erzählung, sie sei ein Abkömmling der Romanows, steckte ein Körnchen Wahrheit. Sie trägt die Lüge niemals so dick auf wie Mona. Wenn man sie überdies mit der Wahrheit konfrontiert, bekommt sie keinen hysterischen Anfall oder geht wie auf Stelzen aus dem Zimmer. Nein, ihr Gesicht weitet sich nur zu einem breiten Grinsen, das sich allmählich zu dem reizenden Lächeln eines engelhaften Kindes mildert. Es gibt Augenblicke, in denen ich glaube, ich kann mit Stasia aus- und weiterkommen. Aber gerade wenn ich fühle, daß die Zeit reif ist, entführt Mona sie schnell, wie ein Tier, das sein Junges schützt.
    Eine der seltsamsten Lücken in unseren intimen Unterhaltungen -denn hin und wieder geben wir uns langen Redeschmausereien hin, die scheinbar mit Aufrichtigkeit gewürzt sind -, eine dieser unerklärlichen Auslassungen, sage ich, hat mit der Kindheit zu tun. Wie sie spielten, wo und mit wem bleibt ein undurchdringliches Geheimnis. Sie sprangen offenbar von der Wiege gleich ins volle weibliche Leben. Nie wird ein
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