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Neva

Neva

Titel: Neva
Autoren: Sara Grant
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Meine Gedanken kreisen immer wieder um das, was vorhin geschehen ist. Die Ankündigung und der Kuss.
    Es kommt mir vor, als hätte ich eine Zündschnur in Brand gesetzt und würde nun auf die Explosion warten.
    Ich ziehe mein Tagebuch unter dem Kissen hervor. Das Rosa des Einbands ist verblichen, und durch zwei Risse, die wie gezackte Narben wirken, ist die graubraune Pappe darunter zu erkennen. Die Schutzhülle aus Plastik wellt sich an den Rändern, reißt ein wie trockene, abgestorbene Haut, und als ich das Buch aufschlage, ächzt die Bindung. Ich streiche mit dem Finger über den Namen, der auf dem Deckblatt steht. Mein Name. Großmama hat ihn hineingeschrieben, und es ist der letzte unter einer ganzen Reihe von durchgestrichenen anderen Namen. Einige Seiten sind unsauber aus dem Buch gerissen worden. So leicht lassen sich Geheimnisse anderer Leute tilgen. Das Papier ist grob, die Kanten faserig. Großmama hat es mir am Abend vor ihrem Verschwinden gegeben.
    »Danke«, sagte ich damals, ohne zu wissen, was ich da in der Hand hielt. Ich war erst sechs und hatte noch nie ein Buch mit leeren Seiten gesehen. Als ich Großmutter an mich drückte, konnte ich das rauhe Polyester ihres Kostüms fühlen. »Das ist toll.«
    »Gern geschehen, Schneeflöckchen«, flüsterte sie, obwohl wir allein in meinem Zimmer waren. Sie küsste mich auf die Stirn. »Aber du versteckst es besser.« Und damit schob sie das Buch unter mein Kopfkissen.
    Ich lächelte. Ich mochte Geheimnisse. Damals hatte ich nicht gerade viele davon. Mit einem Nicken zeigte ich ihr meine Zustimmung. Dabei fiel mir eine Locke ins Gesicht, sie schob sie hinter mein Ohr und zeichnete sie wieder und wieder mit einem Finger nach.
    »Ich habe dich sehr lieb, Neva«, sagte sie. Sie duftete nach Rosenblättern. »Vergiss das niemals. Was auch immer geschieht.«
    Dann zog sie mich an sich und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Schließlich wand ich mich aus der Umarmung, weil mir die Wärme und der Duft zu viel wurden.
    Die erste Seite im Tagebuch ist noch immer frei. Sogar mit sechs Jahren verstand ich schon, wie unglaublich wichtig Tarnung war. Falls jemand das Versteck fände, so dachte ich, würde er vielleicht annehmen, im Buch stünde nichts drin. Jede Nacht schiebe ich es zwischen die filzigen Baumwollklumpen in meiner Matratze. Das Loch ist bereits da gewesen, so als wäre ich nicht die Erste, die das Versteck benutzt. Ich bin nie die Erste.
    Ich blättere zur nächsten Seite, eine, die ich jede Nacht lese. Darauf stehen der Name meiner Großmutter und das Datum von dem Tag, an dem ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich hatte es erst viele Monate später aufgeschrieben, als mir klar geworden war, dass sie nicht zurückkommen würde. Um nichts zu vergessen, notierte ich es mir. Niemand sonst scheint sich an sie zu erinnern, aber sie war da, sie war echt, das weiß ich genau. Die Sechsjährige, die ich damals war, zeichnete ein Bild von ihr – nur ein Kreis mit Korkenzieherlocken, großen runden Augen und einem breiten Lächeln. Aber trotzdem sieht es ihr irgendwie ähnlich.
    Ich habe alles festgehalten, woran ich mich erinnern kann. So kommt Großmama in Bruchstücken zu mir zurück. Ein Geruch oder Geräusch löst etwas in mir aus, und ich beeile mich, es aufzuschreiben, um es nicht wieder zu vergessen. Einmal sah ich zum Beispiel eine grauhaarige Dame in einem türkisfarbenen Kleid, und mir fiel wieder ein, wie Großmama sich angezogen hatte. Sie mochte knallige Farben besonders: Damals, als wir noch neue Sachen kaufen konnten und nicht alles zu Tode recycelten, sind die Farben strahlender gewesen. Sie trug blaue, lila, orangefarbene und rote Kleider mit dazu passenden glitzernden Broschen und großen Ohrringen, die die Ohrläppchen ganz verdeckten.
    Ich lese die Liste erneut durch. Den letzten Eintrag habe ich vor wenigen Wochen hinzugefügt. Ich hatte etwas von Sannas selbstgemachtem Lipgloss aufgetragen, presste kurz die Lippen aufeinander und machte ein schmatzendes Geräusch. In dem Moment fiel es mir wieder ein: Großmama hatte es ebenfalls immer so gemacht. Nachdem sie ihren pfirsichfarbenen Glitterlippenstift benutzt hatte, schloss sie stets den Mund und sog durch den Mundwinkel Luft ein. Ich wusste nicht mehr genau, wie sie das getan hatte. Aber das Geräusch war wieder da, und vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich auch, wie sich die Farbe in den Lippenfältchen sammelte.
    Die nächsten ein, zwei Seiten habe ich bewusst frei gelassen.
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