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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Autoren: Meira Pentermann
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brummte, als sich die unterschiedlichsten Szenarien vor seinem geistigen Auge abspielten.
    Alina umarmte ihren Ehemann, um wieder in die Rolle des verspielten Liebespaars zu schlüpfen. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und sprach weiter; in ihren Worten schwang tiefe Traurigkeit mit. „Als Natalia zwei Jahre alt war, haben wir ernsthaft darüber nachgedacht, in ein größeres Haus zu ziehen. Wenn man’s genau nimmt, hab ich dich deshalb richtig gedrängt.“
    „Und ich habe nicht nachgegeben?“
    „Nein. Wegen der Wohnungskrise war es fast unmöglich, eine Hypothek zu bekommen.“ Plötzlich erschien eine grau getigerte Katze zu ihren Füßen und schmiegte sich schnurrend an ihre Knöchel. Die Katze sah erwartungsvoll zu den beiden hinauf, als würde sie Leckereien erwarten. „Du hattest bei all dem ein schlechtes Gefühl“, erklärte Alina. „Du wolltest unbedingt in dem Haus bleiben und warst sehr stur, was das anging. Ich war am Anfang so sauer auf dich.“ Sie hielt kurz inne und schien dabei das Echo eines alten Streites zu ersticken. Die Katze huschte zurück in die Dunkelheit. „Aber du hattest recht.“ Sie drückte ihn fester an sich. „Gott sei Dank bist du so ein sturer Hund.“
    „Ich hatte recht? Es war richtig, dich in diesem viel zu kleinen Haus zu halten?“
    „Das ‚Gesetz zur gerechten Wohnungsverteilung‘ wurde verabschiedet, noch bevor Natalia drei war. Zu dem Zeitpunkt habe ich mir bei all dem noch nicht so viel gedacht. Aber du warst völlig besessen davon, während die allgemeine Bevölkerung einfach nur ahnungslos war. Viele von uns vermuteten, dass das Gesetz zur Finanzierung von Sozialwohnungen für die Armen gedacht war.“ Sie räusperte sich so leise sie konnte. „Während dieser Zeit wurde ich unruhiger. Ich dachte darüber nach, dich wegen der blöden Sache mit dem Haus zu verlassen. Ich dachte, du würdest einfach nur stur an deiner Kindheit festhalten. Aber du wusstest, was passieren würde.“
    „Wohnsiedlungen wie diese, für Leute, die ihre Hypothek nicht mehr zahlen konnten?“ Er fuhr zusammen, als er in das widerlich gelb–grelle Licht der Laterne an der Straßenecke sah. Das scheußliche Gerät brummte und flackerte unaufhörlich und gab Leonard das Gefühl, er wäre in einem Verhörzimmer eingesperrt. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, sein wunderschönes Haus zu verlassen und in eine hässliche und überfüllte Wohnsiedlung zu ziehen.
    „Schlimmer noch“, sagte Alina. Sie lehnte sich etwas zurück und sah ihm in die Augen. „Sie schmissen die Leute aus den Häusern, egal, ob sie die Hypothek zahlen konnten oder nicht.“
    „Das ergibt—“
    „Im Laufe der nächsten Jahre wurden die Leute umgesiedelt oder dazu gezwungen, mit zwei oder drei Familien zusammen zu wohnen. Die meisten eher schicken Gegenden wurden dem Erdboden gleich gemacht und es entstanden dort Sozialwohnungen. Aber kleinere, ältere Viertel ließ der Staat unversehrt.“ Sie hielt inne, um Luft zu holen. „Es war so schrecklich, Leonard. Zusehen zu müssen, wie die Bulldozer die wunderschönen Gärten platt walzten und die Bagger die Häuser einrissen. Zu hören, wie das Holz und die Gipskartonplatten zerbrachen, während die Häuser in sich zusammenfielen; in den meisten von ihnen befanden sich sogar noch persönliche Gegenstände der Familien. Das war ganz zu Anfang. Aber selbst da hatte ich es noch nicht begriffen.“
    „Warum ging ich davon aus, dass unser Haus verschont bleiben würde?“
    „Du hast gehofft, dass wir weiterhin alleine in dem Haus wohnen dürften, da ja schon für uns zu wenig Platz darin war. Sie kamen vorbei und bewerteten unsere Wohnsituation. Ich glaube, sie waren einverstanden, weil wir nur das eine Bad haben.“
    „Wer kam vorbei?“
    „Leute vom AWU.“
    „AWU?“
    „Amt für Wohnungswesen und Umsiedlung. Du erinnerst dich an nichts davon?“ Sie klang verzweifelt.
    „Sie gingen von Tür zu Tür?“
    „Ja. Viele unserer Nachbarn mussten ein weiteres Pärchen oder eine Familie bei sich aufnehmen. Wir hatten Glück. Wir haben die Übertragungsurkunde unterschrieben und dann ließen sie uns in Ruhe.“
    Leonard wich kurz zurück und beugte sich dann wieder vor, um Alina direkt in die Augen sehen zu können. „Warte mal. Uns gehört das Haus gar nicht? Meine Eltern hatten die Hypothek doch schon einige Jahre, bevor sie nach Florida gegangen waren, abgezahlt.“
    „Niemandem gehört sein Haus.“
    „Wir zahlen eine Hypothek an die Regierung
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