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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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auf der man die Füße abstellte,
blitzte auf, als ich das Licht daran entlang wandern ließ. Hinter der Bar
befand sich eine verspiegelte Wand, eine riesige Fläche facettiertes Glas, in
einen grandios geschnitzten Rahmen gefaßt. Flaschen schimmerten staubig auf
Regalen, die vor dem Spiegel angebracht waren — Flaschen, die von Spinnweben
überzogen und mit dem dunklen Bernstein von Whisky, Rum und Brandy gefüllt
waren.
    Ich schwenkte das Licht nach rechts und
sah kleine Tische mit Stühlen, die ordentlich darunter geschoben waren. Die
Tischplatten waren aus schwarzem Marmor, und die Sitze der Stühle waren mit
tiefrosa Samt bezogen. An den Wänden zogen sich Vorsprünge hin, die mit
Polstern in der derselben Farbe belegt waren. Dazwischen standen riesige Töpfe,
in denen früher vielleicht Palmen gewachsen waren.
    So hatte es in den zwanziger Jahren
ausgesehen, dachte ich. Geheim und exquisit verrucht. Ein intimer kleiner Ort
für Leute, die sich in vornehmem, illegalem Trinken ergehen wollten.
    Das Gefühl von Abgeschiedenheit, das
ich vorher schon verspürt hatte, wurde noch stärker, als ich in diese Tiefe
vergangener Zeit hinabstieg. Das San Francisco, wie ich es kannte, hatte zu
existieren aufgehört. Ich konnte die achtziger Jahre vergessen, die sechziger,
das Jahr meiner Geburt.
    Ich hatte die Flüsterkneipe gefunden,
über deren Existenz es Gerüchte gab, die Flüsterkneipe, die die Besitzer zur
Zeit der Prohibition vom Crystal Palace aus ausgeschachtet hatten. Der Grund
dafür, daß sie nicht entdeckt worden war, als die Arbeiten für die
Untergrundbahn durchgeführt worden waren, bestand darin, daß sie unter dem
Bürgersteig lag, nicht unter der Straße. Die nachfolgenden Besitzer — einschließlich
Otis Knox — hatten ihre Existenz angezweifelt, aber hier war sie nun. Seit
Jahrzehnten hatte sie darauf gewartet, wieder entdeckt zu werden. Und das war
sie — aber nicht von mir.
    Was hatte die Besitzer verursacht, die
Kneipe zuzumauern, aber dabei alles intakt zu lassen, jedes Glas im Regal, die
Stühle sorgfältig unter die Tische geschoben? Das Ende der Prohibition
natürlich. Aber warum? Weil sie erkannten, daß die Flüsterkneipe kein
profitables Unternehmen mehr war? Vielleicht hatten sie sie aus einer Laune
heraus so gelassen, aus dem Wunsch heraus, ein Relikt aus einer Ara zu
erhalten, die schon bald vergessen sein würde. Ich würde es wohl nie
erfahren...
    Ich überquerte den Boden, schwenkte die
Lampe zu einer Seite, zu einem Alkoven, der wahrscheinlich der Wachraum gewesen
war. Hier stand eine Pritsche, ein Faltbett mit einem alten Kissen und einer
gestreiften olivgrünen Decke. Und olivgrünen Laken. Daneben stand ein Holztisch
mit einer Öllampe darauf, einem Transistorradio und einem Stapel Bücher.
    Ich ging an der Bar entlang auf den
Alkoven zu. Alles paßte. Alles —
    Hinter mir hörte ich ein schwaches
Stöhnen.
    Ich wirbelte herum. »Duc?« flüsterte
ich.
    Das Stöhnen erklang noch einmal. Ich
ließ den Strahl über die Wand am hinteren Ende der Bar gleiten. Da gab es eine
Tür mit schweren Eisenscharnieren. Ein Vorratsraum? Kühlraum? Es war unwichtig,
was es war. Ich rannte hinüber und zerrte an dem Riegel.
    Die schwere Tür schwang auf mich zu.
Wieder sah ich nur Dunkelheit vor mir. Dann richtete ich das Licht meiner
Taschenlampe nach unten und entdeckte Duc, der am Boden lag, ein Tuch fest vor
den Mund gebunden, die Arme auf dem Rücken gefesselt.
    Er rollte herum, stöhnte jetzt lauter,
und als ich mich hinkniete, sah er mit flehenden Augen zu mir auf.
    »Alles in Ordnung, Duc?« fragte ich und
mühte mich mit dem festen Knoten in dem Tuch ab. »Jetzt wird alles wieder gut;
du bist in Sicherheit.«
    Duc stöhnte nur noch lauter. Ich bohrte
meine Nägel in den Knoten. Einer brach ab, aber der Knoten hielt. Schließlich
zerrte ich an dem Stoff. Er riß, und ich zog ihn von Ducs Gesicht.
    Er holte tief und keuchend Luft,
während ich die Seile in Angriff nahm, mit denen seine Handgelenke gefesselt
waren. Seine Füße waren frei gelassen worden — es gab keinen Ort, an den er in
diesem kleinen Vorratsraum hätte gehen können. Das Seil war ebenso fest
geschnürt, wie das Tuch es gewesen war, und schließlich setzte ich ihn halb
auf. »Nur noch ein paar Augenblicke«, beruhigte ich ihn, »dann habe ich dich
hier raus.«
    Duc fuhr sich über die aufgesprungenen
Lippen. »Danke.« Seine Stimme war ein heiseres Krächzen.
    Erleichtert, weil sein Zustand gut
genug war, daß er
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