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Nestor Burma in der Klemme

Nestor Burma in der Klemme

Titel: Nestor Burma in der Klemme
Autoren: Léo Malet
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Modezeichnerin in zwei
liebenswürdige, wohlhabende Touristen verwandeln,“
    „Du... du willst das Gold behalten?“ fragte
Lydia beinahe entrüstet.
    „Ach, weißt du, die Keller der Banque de
France sind leer. Die armen Barren würden sich dort nur langweilen, so
alleine. Mit mir dagegen werden sie die große, weite Welt kennenlernen!“
    „Das darfst du nicht. Das ist...“
    Ich verschloß ihr mit einem Kuß den Mund. Von
einer Mörderin lasse ich mir keine Moralpredigten halten!

21

Nestor
Burmas Irrtum
     
    Wenige Stunden später begleitete ich Lydia zum
Zug. Unterwegs trafen wir zwar keinen bösen Menschen, aber ich war dennoch
froh, als ich die roten Rücklichter des Zuges sah. Das unfreundliche Gebäude
der Gare d’Austerlitz wurde von einer freundlichen Morgensonne durchflutet. Ein
unbestimmtes Gefühl der Einsamkeit überfiel mich. Doch es war weniger denn je
der richtige Augenblick, sich hängenzulassen.
    Aus einer Telefonzelle rief ich meinen Freund
Coco „Lederjacke“ an. Wenn man ihn sah, hätte man gerne eine Sammlung für ihn
veranstaltet (was ihm übrigens sehr recht gewesen wäre!), so schlecht war er
gekleidet. Nichtsdestoweniger war er ein geschickter Hehler für Edelmetalle und
besaß ein hübsches Bankkonto in der Schweiz. Ich verabredete mich mit ihm für
den kommenden Montagmorgen. Dann tat ich das, was alle Pariser am Wochenende
tun: Ich fuhr aufs Land. Ziel meines Ausflugs war Bois-le-Roi.
    Montag kam ich früh nach Paris zurück. Die vier
dicken Würste in meiner Aktentasche hätten einen Kontrolleur Bauklötze staunen
lassen. Aber glücklicherweise begegnete ich keinem, der sich für meine Tasche
interessierte. In Paris ging ich in ein stilles Bistro. Die Chefin diskutierte
mit einem Gast über die schlechten Zeiten.
    „Als wenn wir nicht schon genug mit dem Krieg zu
tun hätten“, sagte sie gerade seufzend.
    Der Gast blickte nicht von seiner Zeitung auf.
Seine Antwort machte mich hellhörig. Die Schlagzeile auf der Titelseite ließ
mir die Haare zu Berge stehen. Ich zahlte meinen Kaffee und machte, daß ich
rauskam.
    Die Verabredung mit meinem Freund, dem Hehler,
strich ich erst mal vom Programm. Stattdessen ließ ich mich mit einem
Fahrradtaxi zur Agentur bringen. Hélène saß an ihrem Platz, trotz des Vorfalls
am Samstag. Aber ich hatte keine Zeit, mich zu wundern. Besorgt rief sie mir
zu:
    „Was haben Sie, Chef? Fühlen Sie sich nicht
gut?“
    „Rufen Sie Marc an“, keuchte ich. „Schnell!“
    Ich warf die Goldbarren in eine Schublade meines
Schreibtischs und wartete, die Zähne fest auf das Mundstück meiner Pfeife
gepreßt.
    „Covet“, sagte Hélène und reichte mir den Hörer.
    „Hallo, Marc!“
    „Ach, der liebe Nestor Burma!“ brüllte der
Journalist am anderen Ende. „Hab schon gedacht, Sie hätten in dem Zug
gesessen...“
    „Nein, hab ich nicht. Also... Dann stimmt das?“
    „Ja, natürlich! Ist einfach aus den Gleisen
gehopst, in der Nähe von Angoulême.“
    „Gab’s... viele Tote?“
    „Bis jetzt 150. Aber die sind mit den
Bergungsarbeiten noch nicht fertig.“
    „Haben Sie ‘ne Liste mit den identifizierten
Opfern?“
    „Ja, hab ich. Ist ganz kurz. Aber was...“
    „Lesen Sie!“ befahl ich.
    „Gaston Aurenche“, begann Marc, „13, rue...“
    „Nur die Namen. Sind sie alphabetisch geordnet?“
    „Ja.“
    „Buchstabe V.“
    „Da haben wir... Moment... Lucien Valet, Jean
Vandame... Paul Vauger. Von dem hat man den rechten Arm noch nicht gefunden!
Aber dafür seine Militärmarke. Ist ja fast dasselbe, nicht wahr?“
    „Weiter!“
    „Dann nur noch eine Frau... Na ja, bisher nur
ein Arm mit Schulter und etwas Kopf. Alles bestens erhalten. Die Hand hielt
eine Tasche fest, halb verbrannt, aber mit gültigem Personalausweis. Lydia
Verbois heißt die Unglückliche...“
    Ich heulte auf. Das Büro verschwamm vor meinen
Augen. Ob ich nun fluchte oder weinte oder beides gleichzeitig: An den
Tatsachen würde es nichts ändern. Außerdem fühlte ich mich weder zum einen noch
zum andern imstande. Ein Arm, eine Schulter, ein halber Kopf! Wie verlockend
erschien mir jetzt das Gefängnis, das ich ihr hatte ersparen wollen!
    Hélène trat zu mir. So als wolle sie ein Kind
trösten, nahm sie meine Hand.
    „Chef...“ murmelte sie.
    „Sie sind lieb“, flüsterte ich.
    Mehr fiel mir nicht ein. Ich wankte in mein
Büro.
     
    * * *
     
    Arm, Schulter, Kopf. Die schrecklichen Wörter
gingen mir nicht aus dem Sinn. Ich fing an zu zählen. 1,2,3,4,5,... Bei
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