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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Autoren: Else Ury
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soeben ein wenig mehr Geduld und Sanftmut bewiesen, dann brauchte sie jetzt nicht mit brennenden Augen in den lachenden Lenztag hineinzuschauen. Er war doch nun mal ihr Vorgesetzter, von dem sie eine gerechtfertigte Mißbilligung hinzunehmen hatte. Wie oft hatte sie sich das schon gesagt. Und trotzdem war ihr Hitzkopf mit allen guten Vorsätzen durchgegangen. Wenn es nur irgendein beliebiger Fremder gewesen wäre, der Assistenzarzt, dann hätte eine Äußerung wegen Unzufriedenheit von ihm nicht so ihren Stolz verletzt. Aber von Rudolf Hartenstein ertrug sie eine Zurechtweisung nicht. Und wenn er zehnmal recht hatte. Wäre sie doch niemals darauf eingegangen, am Krankenhaus Westend zu arbeiten. Wäre sie doch lieber in Vaters Klinik gegangen. Vater hatte gewünscht, daß sie erst zum Winter Kolleg an der Universität hören sollte, und während des kurzen Sommersemesters sollte sie praktisch tätig sein, obwohl sie eigentlich noch zu jung dazu war.
    Als Rudolf Hartenstein ihr bei ihrer Heimkehr aus Tübingen den Vorschlag gemacht hatte, als »Famulus« zu ihm zu kommen, war Vater gleich dafür gewesen.
    Im städtischen Krankenhaus gab es noch mehr interessante Fälle als in seiner Privatklinik. Es war gut, wenn Annemarie beim praktischen Arbeiten möglichst viel zu sehen bekam. Seine Assistentin würde sie später werden, wenn sie schon ein gewisses Maß von Erfahrung gesammelt hatte. Und unter Rudolf Hartensteins Anleitung konnte sie etwas lernen, davon war Dr. Braun überzeugt.
    Ja, Annemarie lernte was. Dr. Hartenstein nahm sie stramm heran und ließ ihr nichts durchgehen. Anstatt dankbar dafür zu sein, da es doch zu ihrem Besten geschah, lehnte sie sich wie ein trotziges Kind dagegen auf. »Unzuverlässig und unbedacht« hatte er sie heute wieder genannt. Noch dazu vor der Oberschwester! Die Krankenberichte, die sie zu erledigen hatte, waren nicht fertig. Und als sie ihm beim Röntgen assistierte, hätte sie um ein Haar eines der jetzt so kostbaren Rohre zu weich werden lassen. »Woran sie denn bloß in aller Welt zu denken habe?« hatte er sie ärgerlich angefahren.
    Das ließ sie sich nicht gefallen! Nachdem die Bestrahlung fertig war, hatte sie ohne ein Wort der Entschuldigung den Röntgensaal verlassen. Mochte er sehen, wo er jemand zum Assistieren herbekam.
    Mit einem tiefen Seufzer begab sich Nesthäkchen in das kleine, neben dem Frauensaal gelegene Zimmer und machte sich an die vernachlässigten Krankenberichte.
    Woran sie zu denken hatte? An das, woran er scheinbar überhaupt nicht mehr dachte. Wie ganz anders es im vorigen Sommer zwischen ihnen gewesen war. War das wirklich derselbe, der damals in der Nebelhöhle so liebevolle Worte für sie gehabt hatte? Jede Erinnerung daran schien bei ihm völlig ausgelöscht. Er hatte bei der Arbeit denselben freundlich sachlichen Ton ihr gegenüber wie gegen die Schwestern. An den wenigen freien Abenden, die ihm seine Tätigkeit gönnte, war er meistens mit seiner Schwester Ola zusammen, die seit Weihnachten in Berlin studierte. Sie wohnte bei einer bekannten Familie, hielt aber eifrig Umschau nach einer kleinen Wohnung für sich und den Bruder. Kamen Rudolf und Ola mal abends zu ihnen, dann gab es Fachgespräche mit dem Vater, oder es wurde Skat gespielt. Manchmal plauderte man auch von den gemeinsamen schönen Wochen in Blaubeuren. Von der Nebelhohle sprachen weder Rudolf noch Annemarie.
    Ach, Nesthäkchen hätte gern gewußt, ob es ihm schwer wurde, ihrem Wunsch, Vergangenes vergangen und vergessen sein zu lassen, zu willfahren. Es sah nicht danach aus. Er schien sich ganz gut darein gefunden zu haben. Annemarie biß sich auf die Lippen. Ein düsterer Tintenklecks zierte den Krankenbericht.
    »Fräulein Braun, Herr Doktor läßt zur Visite bitten.« Eine weiße Schwesternhaube erschien in der halbgeöffneten Tür und verschwand wieder.
    Annemarie warf die Feder hin, daß neben dem Klecks noch ein paar Spritzerchen prangten.
    Sollte sie seinem Wunsch nicht nachkommen? Sich mit Kopfschmerzen entschuldigen lassen? Nein, das sah feige aus.
    Der Assistenzarzt war bereits im Kindersaal, als Annemarie den Raum betrat.
    »Tante, komm her« - »Zu mir zuerst, Tante Annemarie« - »Hast du auch an das Märchenbuch gedacht?« - »Tante, morgen darf ich vielleicht aufstehen, sagt der Onkel Doktor« - jubelnd wurde Annemarie von den kleinen Patienten empfangen. Die lustige Tante hatte sich im Sturm die Kinderherzen erobert.
    Heute lachte Tante Annemarie aber nicht. Ernst
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