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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Autoren: Else Ury
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Braun, der Krankenhaus Westend als Aufdruck zeigte. Der wurde etwas hastiger geöffnet als die übrigen und stets mit einer ganz kleinen Enttäuschung beiseite gelegt, wieder vorgeholt und wieder gelesen. Bis sie fast jedes Wort auswendig konnte.
    Lieb und freundschaftlich waren diese Briefe. Sie erzählten von angestrengter Tätigkeit im Krankenhaus Westend. Von manch gemütlichem Abend in ihrem Elternhause berichteten sie, von Musik- und Theatergenüssen in Gemeinschaft mit ihrem Bruder Hans. Sie fragten nach allem, was Annemarie betraf, und doch - was war es nur, wonach Annemarie vergebens forschte?
    Soviel sie auch zwischen den Zeilen zu lesen versuchte, der warminnige Herzenston, der sie bei ihrer gemeinsamen Sommerfahrt durchs Schwabenland so selig beklommen gemacht hatte, er wollte nicht wieder erklingen.
    Weihnachtslichter hatten mit ihrem Strahlenglanz emsige Studienarbeit erhellt.
    Im Dreimäderlhaus blitzte unten das Christbäumle mit Zuckerle, das Vronli und Kaschperle jubelnd umtanzten, droben aber bei den drei Freundinnen brannte eine herrliche Edeltanne, an der Neumann als Längster die Lichter anzünden mußte. Statt Studentenweisen waren Weihnachtslieder mit Akkordeonbegleitung in die klare Sternennacht hinausgezogen. Eine urfidele Bescherung, bei der ein jeder einen Scherzgegenstand mit bezüglichen Versen erhielt, hatte das Heimweh, das der Anblick des Lichterbaumes auslöste, schnell zerstört. Da gab es Pflaumen, einen kleinen, schwer mit Säcken beladenen Esel, ja, sogar eine Puppe, die große Ähnlichkeit mit dem schnauzbärtigen Gendarm hatte.
    Das neue Jahr hatte mit linden Frühlingstagen seinen Einzug in den Schwabengau gehalten. Vergeblich hoffte die Jugend auf Schnee. Erst der März stülpte den alten Giebelhäusern die winterliche Pelzmütze über die Ohren.
    Weiße Ostern - für Nesthäkchen bedeuteten sie den Schlußstein des Tübinger Universitätsjahres. Die Trennung von dem liebvertrauten Gäßle, vom Dreimäderlhaus und sämtlichen Kirchenmäusen war recht schwergefallen.
    Marlene und Ilse, die Unzertrennlichen, sollten auch noch das Sommersemester in Tübingen zubringen. Aber Annemarie war energisch von den Eltern »reklamiert« worden. Familie Braun wollte jetzt endlich mal ihre große Tochter im Hause haben.
    »Was fangen wir bloß im Dreimäderlhaus ohne dich an, Annemarie!« So hatte Marlene geklagt.
    »Selbst wenn du uns das Essen anbrennen läßt und überall deine Sachen herumwirfst, ich wollte doch, du bliebst bei uns, Annemariechen.« Ilse hatte tatsächlich Tränen in den Augen gehabt.
    Auch Neumanns Karpfenaugen hatten dreingeschaut, als ob er weinen wollte.
    Am letzten Abend hatte der Viehdoktor noch eine Fackelpolonäse mit Zapfenstreich in Szene gesetzt. Dann wurde bis früh um fünf bei Frau Veronikas Gugelhupf Abschied gefeiert. Um sechs war dann das Zügle abgedampft, das Nesthäkchen von dem schönsten Jahr seines Lebens davongeführt hatte, wieder heim ins Elternhaus.
    Mit feuchten Augen hatte Annemarie zurückgeblickt auf die winkenden Tüchlein, auf das malerische Giebelgewirr am Neckar.
    Nachdenklich läßt sie heute noch einmal die letzten Monate im Fluge an sich vorübergleiten.
    Mai ist's inzwischen geworden, lachender, sonniger Mai. Der Kastanienbaum vor dem weitgeöffneten Fenster hat wie zu einem Fest all seine Kerzen aufgesteckt.
    Süße Duftwellen von Flieder versuchen vergeblich, den scharfen Karbol- und Lysolgeruch der Krankensäle zu übertäuben. Matte Augen aus bleichen Gesichtern klammern sich an das bißchen Frühling, das der enge Fensterrahmen einläßt.
    Am Fenster lehnt ein junges Mädchen. Den blonden Kopf gegen das Fensterkreuz gepreßt, starrt es nachdenklich in die blauen Klematisglocken, die bis zum Fenster emporklettern. Draußen im Garten werden Patienten in Rollstühlen gefahren; auf den Bänken sitzen schon Halbgenesene. Alle freuen sich über die Maiensonne.
    Selbst die Kranken fühlen sich in ihrem warmen Licht nicht mehr ganz so elend.
    »Fräulein Braun - der Verband drückt.« Von einem Bett erklingt es stöhnend.
    Das junge Mädchen in dem weißen Kittel wendet sich der Rufenden zu. »Wir dürfen ihn nicht lockern, Frau Lehmann, sonst heilt das Bein schlecht. Sie müssen schon die Beschwerden mit Geduld ertragen.«
    Geduld - war es nicht lächerlich, daß sie, die den Begriff Geduld am wenigsten kannte, sie anderen predigte? Nesthäkchen und Geduld! Hatte sie nicht eben erst eine Probe davon geliefert? Ach, hätte sie selbst
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