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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack
Autoren: Christian Stoecker
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unseren Augen langweiligste und quälendste Fernsehprogramm von allen sehen wollte: seltsame Autos mit nur einem Sitzplatz, die mit monotonem Heulen stundenlang im Kreis herumfuhren. Nach konzertiertem Quengeln wurde unser Wunsch irgendwann erfüllt, wir bekamen ein kleines Gerät mit acht Programmwahltasten im silbergrauen Gehäuse.
    Ich kann mich aus meiner Kindheit nur noch an drei Dinge erinnern, die ich außer dem Fernseher unbedingt besitzen wollte: ein ferngesteuertes Auto, ein BMX-Rad und einen Commodore 64. Das Einzige, was ich mir im Rückblick nicht mehr richtig erklären kann, ist der Wunsch nach dem Computer. Wie gerade dieses Gerät die Sehnsucht einer ganzen Generation von Jungs – seltener Mädchen – beflügelte, ist ein Rätsel, das mancher Vermarkter bestimmt noch heute gern lösen möchte. Die Sehnsucht all jener Jungs in der westlichen Welt (ein paar 64er schafften es in den Achtzigern auch in den Ostblock, aber nicht sehr viele) machte den C64 jedenfalls zum bis heute meistverkauften Computer der Geschichte. Rein rechnerisch stand im Jahr 1994, dem letzten, in dem der C64 noch hergestellt wurde, in mehr als jedem zehnten deutschen Haushalt einer. De facto dürfte die Dichte in Westdeutschland ungleich höher, in den damals tatsächlich noch neuen Bundesländern im Osten dafür ungleich niedriger gewesen sein – obwohl Ramschverkäufe bei Aldi und anderen Discountern Anfang der Neunziger sicherstellten, dass auch die Kinder der ehemaligen DDR noch einen C64 bekommen konnten, wenn sie wollten. Karstadt verkaufte eine »Terminater 2 Edition«, samt Joystick, Laufwerk, Spiel zum Film und Bild von Arnold Schwarzenegger auf dem Karton für 600 D-Mark. Und die »Action Box« von Quelle warb mehr oder minder explizit mit den Möglichkeiten, sich durch Raubkopien schnell eine Spielesammlung zuzulegen. Neben dem Laufwerk und ein paar Spielen lagen ihr zehn Leerdisketten bei – und ein abschließbarer Diskettenkasten mit Platz für hundert Stück.
    Der C64 war ein hässliches bräunliches Gerät mit noch brauneren Tasten, von manchen halb zärtlich, halb spöttisch »Brotkasten« genannt. Beim Einschalten begrüßte es einen mit einem in zwei unterschiedlichen Blautönen gehaltenen Bildschirm – hellblau der Rahmen, dunkelblau das Bearbeitungsfeld – und der Überschrift **** Commodore 64 BASIC V2 **** 64 K RAM SYSTEM 38911 BASIC BYTES FREE. Darunter folgte ein erwartungsvoll oder, je nach Betrachtungsweise, stoisch und indifferent blinkender Cursor. Dazwischen die Verheißung »READY«. Der Startbildschirm des 64ers war eine Tabula rasa, ein leeres Spielfeld, das befüllt, beackert, bezwungen werden wollte.
    Ich kann mich nicht erinnern, dass einer meiner Freunde zu dieser Zeit schon einen Computer besessen hätte. Selbst die Schmitts, ein Brüderpaar, das immer alles hatte, was wir anderen unbedingt haben wollten – Bonanza-Räder, Silvesterknaller mitten im Jahr, einen Hobbyraum mit Tischtennisplatte –, besaßen keinen C64. Das Gerät kostete bei seiner Markteinführung in Deutschland fast 1500 D-Mark, das Diskettenlaufwerk VC 1541, schlicht »Floppy« genannt, weil es mit biegsamen Disketten, Floppy Discs, gefüttert wurde, noch einmal 850 D-Mark. Das war weit jenseits der Budgets für ein übliches Weihnachts-oder Geburtstagsgeschenk. Die Preise fielen jedoch rapide. Es gehörte in der Schule zum guten Ton zu wissen, was der »64er« aktuell kostete.
    Der Rechner besaß eine so große Anziehungskraft, dass Kinder und Jugendliche in Kaufhäuser und Elektronikfachgeschäfte pilgerten, um dort damit zu spielen. Gegenüber dem Zuhause der Schmitt-Brüder zum Beispiel gab es einen Elektromarkt, in dem auch ein 64er samt Floppy stand, der an einen Fernseher angeschlossen war. Die beiden Brüder hatten sich eigens einen Joystick zugelegt und machten sich mit Disketten voller raubkopierter Spiele regelmäßig auf den Weg über die Straße, um in dem wochentags meist schlecht besuchten Laden stundenlang zu spielen, vom Verkaufspersonal unbehelligt.
    Ich erinnere mich an Nachmittage auf dem Teppichboden des Ladens, umgeben von Röhrenfernsehern, Kühlschränken und Waschmaschinen, in ungeduldiger Erwartung des Zeitpunkts, da ich auch einmal den Joystick in die Hand nehmen und eine Runde spielen durfte.
    Unsere Ausflüge in den Elektromarkt waren nichts Außergewöhnliches. Ein Bekannter, der heute in leitender Position für einen deutschen Zeitschriftenverlag arbeitet, erinnert sich, zahllose
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