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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack
Autoren: Christian Stoecker
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das nur Web-Adressen auf Stoppschilder umleitet – und er erfordert keinen Eingriff in die segensreich ignorante Struktur des Internets selbst, keine Filter-Server und keine geheimen Sperrlisten.
    Für den Jugendschutz im Internet gilt Ähnliches: Den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor grausigen, scheußlichen oder pornografischen Inhalten zur obersten Priorität bei der Regulierung des Netzes zu machen, wäre ein großer Fehler. Nicht umsonst sind hierzulande (und in den meisten anderen westlichen Demokratien) Erwachsenen Dinge gestattet, die Kindern und Jugendlichen verboten sind. Erwachsene haben die Freiheit, sich zu betrinken, sich Pornografie oder brutale Filme anzusehen oder ihren Körper mit Nikotin zu vergiften. All das betrachten wir als Ausdruck persönlicher Freiheit in einer freien Gesellschaft.
    Umgekehrt halten wir Gesellschaften, in denen beispielsweise Pornografie (China, Indien und andere) oder öffentlicher Alkoholkonsum verboten ist (USA), für weniger frei, womöglich sogar für ein bisschen rückständig. Solche Freiheiten nun im Internet leichtfertig zur Disposition zu stellen, weil es schwieriger erscheint, die Online-Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen zu überwachen, als das, was sie offline tun, wäre fatal.
    Jugendschutzregelungen lassen sich in Grenzen immer umgehen, und das geschieht auch fortwährend. Als ich in den achtziger Jahren zur Schule ging, kursierte auf den Pausenhöfen ein Video namens »Gesichter des Todes«, das (angeblich) reale Tötungssituationen in Serie zeigte, Hinrichtungen, grauenvolle Unfälle, Gewaltausbrüche, die von Überwachungskameras festgehalten worden waren. Die Eingeweihten, die es schon gesehen hatten, raunten den anderen schreckliche Dinge zu über das, was sie da gesehen hatten: einen Mann auf dem elektrischen Stuhl, einen Einbrecher, der von Hunden zerrissen wird. Gerade weil das Video verboten war, sahen es sich viele meiner Klassenkameraden an (ich habe mich erfolgreich davor gedrückt) als eine Art Mutprobe und allen Jugendschutzbemühungen zum Trotz. Ganz ohne Internet. Heute sind sie Apotheker, Ärzte, Lehrer, Anwälte oder Versicherungsvertreter.
    Jugendschutz ist ein Prozess, der permanent neu ausgehandelt werden muss, dessen Rahmenbedingungen ständig neu definiert werden müssen, damit das Recht des Einzelnen dabei nicht auf der Strecke bleibt. Das Moralempfinden einer bestimmten Generation zum Gradmesser für das zu machen, was im Netz erlaubt sein sollte, ist nicht nur technisch nicht umsetzbar – es wäre auch ein äußerst kurzsichtiger Umgang mit unserem höchsten Gut: unserer Freiheit. Was nicht heißt, dass Internetprovider oder andere Dienstleister weiter daran arbeiten müssen, Filtermechanismen zu entwickeln, die Eltern auf ihren privaten Rechnern einsetzen können, um den Zugang zu bestimmten Inhalten für ihren Nachwuchs zumindest zu erschweren. Letztlich liegt es bei denen, die Kinder und Jugendliche erziehen, deren Medienkonsum mit wachem Auge zu begleiten – egal, ob es sich um Bücher, Filme oder eben Internetinhalte handelt.
    Wenn man jedoch denen lauscht, die nach mehr Regulierung im Netz rufen, bekommt man einen ziemlich unmissverständlichen Eindruck: Am liebsten wäre ihnen ein Internet mit Jugendfreigabe »ab 12«. Onlinespiele, Pornografie, Ekelbilder, provokante Texte – das alles soll bitte schön am besten gar nicht mehr verfügbar sein. Dann ist das Netz sicher, denn schließlich sind es ja die Kinder, die sich ständig darin aufhalten. Das entspricht vermutlich sogar der Lebenswirklichkeit vieler Menschen jenseits der 50, die online nur hin und wieder mal eine E-Mail abschicken oder einen Schaukelstuhl bei Ebay verkaufen. Das schlimme Internet, über das man so viel liest, vermuten sie eher auf den Monitoren ihrer Kinder oder Enkel. Diese Haltung aber, das Abtun dieser gewaltigen Veränderungsmacht als Spielzeug, als Tummelplatz nur für Kinder und Jugendliche, ist der Kern des Problems, das wir in diesem Land mit digitaler Technologie haben.
    Neben der vermeintlichen Unkontrollierbarkeit seiner Inhalte wird dem Internet hierzulande häufig vorgeworfen, es mache Menschen zu Exhibitionisten und zerstöre damit die Privatsphäre. Wer etwas »veröffentlicht«, weil er es auf eine Web-Seite gestellt hat, ist, wenn man dieser Logik folgt, selbst Schuld. Seine Privatsphäre hat er damit ja freiwillig aufgegeben. Jeder darf es sich ansehen, jeder darf daraus zitieren, Inhalte übernehmen und sie bei Bedarf
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