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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack
Autoren: Christian Stoecker
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»Scientology is a Cult« und »Fuck you Google« – letzterer auf dem Kopf. Die 4Chan-Nutzer aber hatten, ganz aus Versehen, eine neue Methode gefunden, ein winziges Stückchen Web-Öffentlichkeit zu manipulieren.
    Fast jeder Internetnutzer dürfte schon einmal irgendwo einem Witzformat, einer Wortschöpfung oder einem anderen Netzphänomen begegnet sein, das seinen Ursprung im Chaos von 4Chan hatte, auch wenn die wenigsten von diesem bizarren Herkunftsort je gehört haben. Innerhalb von 4Chan fühlt man sich deshalb als Angehöriger einer Elite, einer relativ kleinen Gruppe, die mehr über die Mechanismen und Gedankenströme des Netzes weiß als die Uneingeweihten da draußen. Die wenigsten der regelmäßigen Nutzer von 4Chan sind allerdings wohl tatsächlich versierte Hacker. Trotzdem können sich alle regelmäßigen Chan-Nutzer ein bisschen wie echte Internetinsider fühlen.
    Die Mem-Schleuder 4Chan hat auch ernsthaftere, langlebigere Ideen hervorgebracht. Zum Beispiel die bis heute existierende Anti-Scientology-Protestbewegung, die ursprünglich unter dem Namen »Project Chanology« ins Leben gerufen wurde. Der Ausgangspunkt war ein internes Scientology-Werbevideo, das Anfang 2008 bei YouTube aufgetaucht war. Der Schauspieler und Scientologe Tom Cruise schwadronierte darin über die Macht der Scientologen. Er wirkte leicht verwirrt, äußerst erregbar und ziemlich fanatisch. Bei 4Chan amüsierte man sich über das Video – bis Scientology es auf juristischem Weg aus dem Netz entfernen ließ. Im /b/-Forum rief ein Nutzer daraufhin dazu auf, Scientology-Websites mit Hack-Attacken oder auf anderem Wege anzugreifen: »Es wird Zeit, dass wir unsere Ressourcen für etwas nutzen, das wir für richtig halten.«
    Viele Kommentatoren widersprachen ihm, aber schon einen Tag später begannen erste Denial-of-Service-Attacken Scientology-Seiten lahmzulegen. Weltweit wurden schließlich Demonstrationen vor Scientology-Zentralen organisiert. Die Chanology-Demonstranten nannten sich selbst »Anonymous«, im Netz tauchten Videos auf, in denen der Sekte »der Krieg erklärt« wurde: »Wissen ist frei. Wir sind Anonymous. Wir sind Legion. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns.«
    Weil Scientology auf Protestdemonstrationen in der Regel unter anderem damit reagiert, die Protestierenden auf Video aufzunehmen, trugen die Chanology-Demonstranten Masken, und zwar alle die gleichen: Das stilisierte Gesicht eines weiß geschminkten Mannes mit einem geschwungenen Schnauzbart, einem Kinnbärtchen und einem breiten, naturgemäß starren Lächeln. Die Maske stellt Guy Fawkes dar, den Mann, der am 5. November 1605 das britische Parlament in die Luft sprengen wollte, aber rechtzeitig entdeckt wurde. In Großbritannien sind derartige Masken jedes Jahr zum Guy-Fawkes-Day am 5. November im Einsatz, wenn große Holzfeuer angezündet und Feuerwerke abgebrannt werden. Zu einer internationalen Ikone wurde die Fawkes-Maske jedoch durch Alan Moores Comic »V wie Vendetta«, eine in der Thatcher-Ära entstandene Geschichte über ein dystopisches England der Zukunft, in dem die Bürger überwacht, manipuliert und unterdrückt werden. Ein einsamer Widerstandskämpfer, der sich selbst nur »V« nennt, tritt gegen das Establishment an und bringt einige seiner Vertreter um, stets durch eine Fawkes-Maske unkenntlich gemacht. Am Ende der Geschichte erhebt sich das unterdrückte Volk, und die Straßen Londons sind plötzlich von Tausenden Widerstandskämpfern mit Fawkes-Masken bevölkert, was es den Sicherheitsbehörden unmöglich machen soll, den eigentlichen Anstifter zu entdecken. Dieses Bild – die Macht und Unangreifbarkeit der anonymen, maskierten Masse – wurde zur Chiffre für die Anonymous-Bewegung. Bis heute demonstrieren Menschen mit Fawkes-Masken Monat vor Monat vor Scientology-Gebäuden. Seit November 2010 sieht man sie auch überall dort, wo für WikiLeaks und Julian Assange demonstriert wird.
    Heute ist Anonymous eine sich ständig verändernde Gruppierung ohne augenscheinliche Führung, ohne feste Strukturen oder klar definierte Ziele. Im Kern jedoch geht es den Anonymen durchaus um Werte. Um das Recht, online unerkannt und unzensiert ihre Meinung sagen zu dürfen beispielsweise. Um den Kampf gegen jegliche Unterdrückung von Information. Hier überlappen sich die Ziele mit denen von Julian Assange und WikiLeaks: Die beiden doch eigentlich grundverschiedenen Netzphänomene stehen für eine bedingungslose Anerkennung und
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