Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen
Autoren:
Vom Netzwerk:
anderen Kinder an den Wochenenden abgeholt wurden, blieb ich meist mit einigen wenigen Leidensgenossen im jeweiligen Internat zurück und bereitete mich darauf vor, mir die Zeit mit dem Studium der Mickey-Maus-Hefte, die sie mir regelmäßig schickten, zu vertreiben, oder einfach nur damit, apathisch auf meinem Bett zu liegen, an die Decke zu starren und mir schrecklich überflüssig und ungeliebt vorzukommen.
    Nein, meine Eltern waren nicht perfekt gewesen, und meine Kindheit war weiß Gott keine, an die es sich zurückzuerinnern lohnte. Ich glaube, ich habe sämtliche Schloss- und Burginternate dieses Landes kennen gelernt.
    Alle außer Burg Crailsfelden.

Mein Blick wanderte wieder zu dem Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand, auf dem man den Operationssaal überblicken konnte. Ellen hatte auf dem blutverschmierten OP-Tisch Platz genommen. Irritiert beobachtete ich, wie die Schwestern ihr eine Plastikstütze in den Rücken schoben, so dass die rothaarige Chirurgin aufrecht auf dem Tisch sitzen konnte. Eine eigenartige Position für eine Operation, wie ich fand. Einer der vermummten Ärzte begann, wild mit den Händen gestikulierend, auf sie einzureden, aber Ellen schüttelte nur entschieden den Kopf.
    Eine Schwester trug einen länglichen, fast mannshohen Spiegel herbei und stellte ihn vor dem Operationstisch auf.
    »Eine bewundernswerte Frau«, betonte Sänger erneut und stand mit wackeligen Beinen auf. »Ich glaube, wenn sie könnte, würde sie sich auch noch selbst den Tumor aus dem Kopf schneiden. Aber das können nicht einmal wir.
    So hat sie wenigstens das Gefühl, allein die Verantwortung für sich zu tragen ...« Er schüttelte seufzend den Kopf und nickte mir zum Abschied zu. »Ich sollte wenigstens in der Nähe sein, wenn sie kollabiert«, beschloss er und bewegte sich auf den Ausgang zu. »Wir sehen uns später noch einmal.«
    Ich blickte dem Alten nicht nach. Mit einem Gefühl von perverser Faszination beobachtete ich auf dem Monitor, was im Operationssaal geschah. Ellen rammte sich selbst eine mehr als handlange Spritze in den Bauch, die wahrscheinlich ein Betäubungsmittel enthielt. Erst jetzt begriff ich, was Sänger mit seinen Worten gemeint hatte und was die junge Ärztin vorhatte: Sie wollte sich tatsächlich selbst operieren!
    Mit trotz ihres vermummten Gesichts deutlich erkennbarem Widerwillen reichte ihr eine der Schwestern im grünen Kittel ein Skalpell, das Ellen entschlossen an ihrem mittlerweile entblößten Bauch ansetzte. Sie begann zu schneiden, und mir wurde übel und schwindelig. Ich konnte, ich wollte nicht sehen, was weiterhin geschah, und schloss die Augen. Doch auch die bloße Vorstellung, wie Ellen selbst an sich herumoperierte, war kaum leichter zu ertragen, als das Geschehen tatsächlich weiter genau zu beobachten, und wie zur Strafe dafür, dass ich die Augen geschlossen hatte, wurde nun auch noch der Ton zu den schrecklichen Bildern auf dem Flachbildschirm zugeschaltet. Ein elektrisches Knistern kroch durch den Raum, dann vernahm ich Ellens angespannt klingende Stimme.
    »Ich werde die kleineren Blutungen veröden«, beschloss sie.
    Entsetzt blinzelte ich wieder zu dem Bildschirm empor.
    Sie hatte es tatsächlich getan! Ellen hatte sich den Bauch mit dem Skalpell eigenhändig auf einer Länge von mindestens zehn Zentimetern aufgeschnitten. Dickflüssiges Blut quoll aus der klaffenden Wunde, und die junge Ärztin war kreidebleich. Kalter Schweiß war auf ihre Stirn getreten, und ich sah, dass ihre Hände leicht zitterten. Dennoch gab sie nicht auf, sie sah nicht einmal weg, sondern betrachtete hochkonzentriert jede ihrer Bewegungen in dem langen Spiegel, der vor ihr aufgestellt worden war.
    »Den Elektrokauter bitte«, sagt sie leise.
    Eine der vermummten Gestalten reichte ihr ein Gerät, das wie ein schlanker blauer Stift aussah. Aus seinem hinteren Ende führte eine elektrische Leitung, die irgendwo zwischen den grün gewandeten Ärzten und Schwestern verschwand. Die rothaarige Ärztin fuhr mit dem Stift über die Wundränder und schaffte es tatsächlich, das Zittern ihrer Finger für die Dauer ihrer makaberen Selbstbehandlung zu unterbinden, doch ihrem Gesicht waren Furcht und Schrecken eindeutig anzusehen. Eine der Schwestern trat ein wenig dichter an sie heran und wischte ihr den Schweiß mit einem Wattetupfer von der Stirn. Die Bildqualität, in der ich die Geschehnisse verfolgte, war geradezu abartig hervorragend. Ich konnte sogar die konzentrierte Falte erkennen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher