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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen
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dass ich in Thrombosestrümpfen aufgewacht war, hatte ich während einer Narkose den Wurmfortsatz meines Blinddarms eingebüßt und mich hundeelend gefühlt. Nun fühlte ich mich noch schlechter.
    Unzählige Schläuche und Kabel schlängelten sich wie hässliche Würmer über die nackte Haut meiner Arme und reichten unter das dünne Baumwollhemdchen, unter dem sich zudem runde Saugnäpfe abzeichneten, über die ein EKG-Apparat, der irgendwo vor sich hin summte, meinen Herzschlag kontrollierte. In meinen Armbeugen steckten mehrere Kanülen, die unangenehm drückten und brannten, als ich einen kurzen Moment die Muskeln anspannte, um zu prüfen, ob ich diese noch spürte (oder wieder spürte? Wo hatte der Traum begonnen und wo hatte er geendet?).
    Pflaster fixierten die Nadeln, die tief in meiner Haut steckten.
    Mit den Fingernägeln der rechten Hand begann ich an einem der Pflaster an meiner linken Armbeuge zu pulen und stellte leidvoll fest, dass es sich um eines jener Exemplare handelte, mit welchen man sich sämtliche Haare und die obersten vier Hautschichten vom Leib riss, wenn man sie abzog. Ich fühlte mich noch immer schwach und müde und besann mich darauf, erst einmal ein paar Atemzüge lang Kraft zu sammeln, ehe ich mich der mit Sicherheit qualvollen Prozedur der Pflaster- und Kanülenentfernung zuwandte. Abgesehen von der Liege, auf der ich mich befand, gab es lediglich ein einziges weiteres Möbelstück in dem kleinen Raum: einen modern und filigran wirkenden verchromten Hocker. Dafür gab es eine Unzahl von blinkenden und piepsenden Apparaten, Gerätschaften und einen ebenfalls verchromten Ständer, von dem mehrere durchsichtige Beutel hingen, aus denen diverse Flüssigkeiten über dünne Schläuche in meine Venen gepumpt wurden. In die Wand schräg über mir waren drei Flachbildschirme eingelassen, die aber allesamt ausgeschaltet waren. Das einzige Licht spendete eine schwache grüne Notlampe, die unter der Lüftung über der einzigen Tür angebracht war. Ich wunderte mich ein bisschen, dass ich bei dieser schlechten Beleuchtung überhaupt so viele Details ausmachen konnte.
    Vor allen Dingen aber wunderte ich mich über die Gestalt, die auf dem kleinen verchromten Hocker zwischen meiner Liege und all den medizinischen Gerätschaften auf Rollen saß und mich lächelnd anblickte.
    Obwohl mein Verstand sich im ersten Moment strikt weigerte, die Erkenntnis anzunehmen, wusste ich sofort, wem ich mich gegenübersah. Der Mann war alt, steinalt.
    Er musste die neunzig längst überschritten haben. Die Zeit hatte tiefe Furchen in die ledrig schimmernde Haut seines Gesichts gegraben, und seine Wangen hingen schlaff herab. Schwere Tränensäcke lagen unter seinen gelblich schimmernden, eitrig triefenden Augen, und sein Mund war kaum mehr als ein schrumpeliger, schmaler Spalt in seinem Gesicht. Seine Ohren wirkten überproportional groß; ich hatte einmal gelesen, dass Ohren ein Leben lang wachsen. Von seinem Haar waren ihm nicht mehr als ein paar vereinzelte Strähnen geblieben, die silbrig grau im schwachen Licht schimmerten.
    Professor Sänger sah alt und gebrechlich aus. Dennoch war seine Haltung stolz und aufrecht, und seine sichtlich kranken Augen drückten neben aufgesetzter Väterlichkeit ungetrübte, messerscharfe Intelligenz aus.
    »Professor Sänger?«, flüsterte ich. Meine Stimme klang rau und fremd, und es kostete mich große Mühe zu sprechen. Mein Mund fühlte sich an, als hätte man mir während des Schlafes die Schleimhäute abgetragen und durch feines Schmirgelpapier ersetzt. Vielleicht war dem ja sogar so. Ich wusste nicht, was geschehen war. Ich fühlte mich auf seltsame Weise berührt, regelrecht missbraucht.
    Ein Lächeln spielte um die rissigen, schmalen Lippen des Alten. »Na also«, sagte er. »Du musst mich entschuldigen. Meine Augen ...« Er deutete auf das schwach glimmende Notlicht über der Tür. »Selbst das wenige Licht hier in der Kammer schmerzt«, erklärte er in entschuldigendem Tonfall, griff in die Brusttasche seines weißen Kittels und zog eine Sonnenbrille im Stil der siebziger Jahre daraus hervor, die er aufsetzte. Obwohl ich seine Augen nun nicht mehr sehen konnte, spürte ich, dass er mich unverwandt anstarrte. »Es hätte mich beleidigt, wenn du mich nicht mehr erkannt hättest«, behauptete der Professor. »Freilich, es ist lange her – und wir haben uns unter ...« Ich fühlte den durchdringenden Blick, mit dem er mich durch die getönten Gläser der Brille hindurch
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