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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen
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weißes OP-Hemd und ein Paar Thrombosestrümpfe, die an ihren langen, schlanken Beinen aber ungleich attraktiver aussahen als an meinen behaarten, knochigen Gliedern. Den Schwestern und ihr folgten einige weitere Ärzte und Schwestern in grünen Kitteln, die ihre Haare allesamt sorgsam unter bläulichen Hauben verborgen hatten und einen Mundschutz trugen.
    Ellen besprach irgendetwas mit den fremden Ärzten, aber ich konnte ihre Worte nicht verstehen. Es gab keinen Ton zu der Bildübertragung aus dem Operationssaal.
    »Eine außergewöhnliche Frau«, sagte Sänger leise, und aus seiner Stimme klang etwas, mit dem er mir wohl aufrechte Anerkennung vorgaukeln wollte. Es gelang ihm nicht. »Und bildhübsch, nicht wahr«, sagte er. »Eine echte Schönheit. Und so verzweifelt...« Der alte Professor lächelte. »Sie weiß, wie es um sie steht«, behauptete er.
    »Und trotzdem will sie auf keinen Tag verzichten. Sie wird es selbst tun ...« Der Alte schüttelte den Kopf.
    »Wirklich eine faszinierende Frau. Ich bin gespannt, ob sie es durchsteht.«
    Fast hätte ich ihn gefragt, was er damit meinte, was verdammt noch mal Ellen durchstand oder eben nicht.
    Aber ich verkniff es mir, denn ich begriff rechtzeitig, dass Sänger ganz genau darauf abgezielt hatte. Der Alte hüllte sich in einen Mantel aus Andeutungen und geheimnisvollen Orakelsprüchen, um nichts anderes zu erreichen, als dass ich Fragen stellte und mich in der Rolle des unterlegenen Bittstellers, und sei es nur mit der Bitte um Antworten, wiederfand, aber dieses Spiel würde ich nicht mitspielen. Es war eine ausgesprochen billige Art, Überlegenheit zu demonstrieren.
    Ob ich den Spieß umdrehen konnte? Ellen hatte
    anscheinend Recht gehabt, als sie behauptet hatte, dass wir alle Teil eines Experiments waren. Aber so, wie diese Nacht verlaufen war, musste dieses Experiment tüchtig aus dem Ruder gelaufen sein. All die Toten – das konnte unmöglich zu Sängers Plan gehört haben. Das ergab keinen Sinn! Was hatte er denn davon?
    Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, ob es tatsächlich sein konnte, dass ich dem Professor in früher Kindheit schon einmal begegnet war, aber es war, als hätte jemand ein gewaltiges Loch in meine Erinnerungen gestanzt. Die Anhäufung von Déjà-vu, die in dieser Nacht über mich gekommen waren ... Das konnte kein Zufall sein. Und hatte ich nicht früher schon manchmal das unbestimmte Gefühl gehabt, eines Teils meiner Jugend beraubt worden zu sein? War da nicht schon immer eine nagende Gewissheit in meinem Unterbewusstsein gewesen, dass mir irgendetwas fehlte? In willkürlichen Abständen fraßen sich diese Ahnungen bis in mein Bewusstsein hindurch, nur um sich schnell wieder zurückzuziehen, sobald ich begann, mir ernsthafte Gedanken darüber zu machen.
    Es gab eine Zeit, an die ich mich nicht aktiv zu erinnern vermochte, eine Spanne, von der ich hauptsächlich aus den Erzählungen meiner Eltern wusste, die sie so oft erwähnt hatten, dass ich sie beinahe als meine eigene Erfahrung angenommen hatte. Ich war auf einem Internat gewesen ...
    Aber das war ich doch immer wieder gewesen! Ich hatte den Onkel, der mich von Internat zu Internat geschickt hatte, dafür gehasst, dass er es getan hatte, aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, musste ich zugeben, dass er nur fortgesetzt hatte, was auch meine Eltern zu ihren Lebzeiten schon getan hatten. Ich hatte es immer vermieden, daran zurückzudenken. Viel zu früh hatte ich sie beide verloren und alles, was nicht in mein Idealbild der fürsorglichen, geliebten Eltern gepasst hatte, die so unvermittelt und früh aus ihrem und meinem Leben gerissen worden waren, nach Kräften verdrängt. Ich hatte es vorgezogen, die schönen Erinnerungen an sie zu schmücken und die schlechten so oft mit grauer Farbe zu übermalen, bis so gut wie nichts mehr davon sichtbar war. Vielleicht hatten sie es gut gemeint, als sie mich von Musterschule zu Musterschule geschickt hatten, aber ich hatte sie dafür gehasst.
    Später wollte ich nicht mehr daran denken, dass ich sie für irgendetwas gehasst hatte. Man verachtet seine toten Eltern nicht. Man hält sie in Ehren. Aber nun, da ich versuchte, die grauen Farbschichten, die ich auf ihr Andenken gespachtelt hatte, abzutragen, fühlte ich mich wieder genauso von ihnen abgeschoben wie damals, als sie noch gelebt hatten. Sie hatten sich darauf beschränkt, mich in den Ferien zu sich zu holen und, wenn ich Glück hatte, auch zu meinen Geburtstagen. Wenn die
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