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Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
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Carl, der seine Sprache nun leider Gottes ebenfalls wieder gefunden hatte, und schnaubte verächtlich. »Dass ihre Namen nicht in einem Ehrenkodex genannt worden sind, heißt noch lange nicht, dass sie nicht im Krieg gestorben sind. Ein beachtlicher Teil der Gefallenen befand sich gerade erst im jugendlichen Alter, so weit ich weiß.«
    »Die Schusskanäle.« Ellen ging nicht auf die Provokation des Wirtes ein, sondern sah davon ab, weitere hässliche Bemerkungen zu machen und beschränkte sich wieder auf die sachlichkühle Übermittlung ihrer Fachkenntnisse. »Der Schusskanal verläuft bei jedem Präparat in einem anderen Winkel, obwohl die Einschussstelle gleich bleibt. Die Schusskanäle sind aus den Schädeln herauspräpariert worden – sie müssen still gehalten haben dabei, es sieht fast so aus, als hätten sie noch gelebt ...
    Aber hier«, sie deutete auf ein paar kleine Zettel, die den anderen nicht durch Schüsse, sondern anderweitig entstellt aussehenden Präparate beigefügt waren, »seht euch das mal an.«
    Auf den identisch großen Zetteln waren Bilder der dazugehörigen Präparate abgedruckt, die fast noch deutlicher als die Exponate selbst zeigten, welcherlei Missbildungen man an dieser Stelle in die grauenvolle Sammlung eingefügt hatte. Hypertelorismus, las ich auf einem der weißen Zettel, der vor einem ungewöhnlich platt wirkenden, in einem Glasbehälter untergebrachten Gesicht auf dem Regalboden klebte. Die Augen standen deutlich zu weit auseinander, der Nasenrücken war deformiert und enorm breit.
    »Ein angeborener Defekt«, kommentierte Ellen. Ich wünschte ihr, an diesem Ausdruck zu ersticken: Defekt.
    Ein Leiden, wäre die richtige Formulierung gewesen.
    Dieser Mensch musste Zeit seines Lebens unter sich selbst, unter seinem eigenen Antlitz gelitten haben, hatte vielleicht noch eine Reihe anderer Missbildungen an dem Körper erdulden müssen, welchen man ihm geraubt hatte nach einem Tod, von dem ich nicht sicher war, ob er ein natürlicher gewesen oder ob dieser junge Mann schlicht Opfer von wissenschaftlichem Übereifer geworden war.
    »Das da ist vermutlich ein Fibrosarkom«, erklärte Ellen mit einer Geste auf ein von einem unschönen Geschwür überwuchertes, lebloses Gesicht. »Ein bösartiger Tumor des Bindegewebes mit unterschiedlich ausgeprägter Kollagenfaserbildung, Knochen- und Knorpelbildung. Und das da«, sie beleuchtete das Gesicht eines glatzköpfigen Mannes, dessen Gesicht vollständig erhalten geblieben war, welches aber unnormal faltig, regelrecht verschrumpelt wirkte, »ist ein Fall von Cutis verticis gyrata.« Ihre Stimme bekam einen fast schwärmerischen Unterton. »Eine extreme Furchen- und Faltenbildung, die man meist an der Kopfhaut beobachten kann. Dadurch entsteht ein hirnwindungsähnliches Hautbild. Man findet dieses Phänomen zumeist bei Geisteskranken oder bei psychisch labilen Menschen.«
    Sie ging weiter und steuerte die Wannen vor den Stahltüren am Ende des Regalganges an. Judith und ich folgten dem Wirt und ihr, und ich unterdrückte den Drang, nach meiner Stirn zu tasten und mich zu vergewissern, dass mich, wenn ich schon annähernd geisteskrank, zumindest aber psychisch längst extrem labil war, die Cutis verticis gyrata noch nicht heimgesucht hatte und den erbärmlichen Zustand meiner geschundenen Seele nur allzu deutlich nach außen hin trug.
    »Das ...« Ellen stockte, starrte einen Augenblick lang höchst konzentriert auf die gläserne Abdeckplatte auf der mittleren Keramikwanne hinab und beugte sich schließlich weit vor, um die darauf liegende, fast einen halben Zentimeter dicke Staubschicht mit dem Ärmel ihres sündhaft teuren Kostüms beiseite zu wischen. Sie schüttelte sich, als hätte sie gerade in eine saure Zitrone gebissen, und zog eine Grimasse. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, stellte sie angewidert fest.
    Ich hätte gewarnt sein müssen. Vor mir stand eine erfahrene Unfallchirurgin und blickte angeekelt auf eine Keramikwanne in einem verlassenen Anatomiemuseum aus der SS-Zeit hinab, wobei ihre außergewöhnlich helle Haut zusätzlich an Farbe einbüßte. Ich sah, wie der Lichtkegel, den sie auf das Exponat richtete, plötzlich zu zittern begann. Was auch immer sich in diesem Behälter befand, musste etwas ungleich Schrecklicheres sein als alles, was wir bislang hier unten erblickt hatten. Trotzdem schaute ich ihr über die Schulter. Vielleicht war es besser, das gesamte Grauen zu erfassen und mich hinterher darum zu bemühen, das
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