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Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Titel: Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
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hervor.
    Judith schrak zusammen und wandte sich zu mir herum. Sie hatte mein Flüstern gehört! Wenn auch ich noch immer nicht wusste, wo die Wirklichkeit begann und wo sie endete, so wusste ich nun zumindest mit hundertprozentiger Sicherheit, dass zumindest ich real war.
    Ihr Gesicht wirkte unglaublich bleich, noch blasser sogar als vorhin, als Ellen die Wunde an ihrem Arm vernäht hatte. Der Blutverlust, versuchte ich mich stumm zu beruhigen. Es rührte alles nur von ihrem Blutverlust her, ganz bestimmt.
    Ich fühlte, wie etwas Warmes von meiner Nase hinabtropfte und meine Lippen benetzte. Ein metallischer, fast rostiger Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, und auch die Schmerzen in meinem Kopf hämmerten wieder mit voller Wucht von innen auf meine Schädeldecke ein. Wieder fühlte ich dieses fremde Etwas in meinem Inneren. Vielleicht wurde ich tatsächlich verrückt, dachte ich, aber möglicherweise hatte ich auch schlichtweg einen Schädelbruch. Ich war nicht sicher, was mir lieber war.
    Judiths Lippen bewegten sich, während sie auf mich zu eilte, aber die Silben, die sie hervorbrachte, ergaben keinen Sinn in meinem Verstand, purzelten in meinem Kopf durcheinander und verklumpten zu einer klebrigen Masse. Meine Hand tastete über meine Nase. Als ich sie zurücknahm, haftete dunkles Blut an meinen Fingern.
    Judith hatte mich erreicht, schob mir den Arm unter die Schultern und trug mich eher zu Ellen ans Fenster heran, als dass sie mich stützte. Ohne Unterlass bewegten sich ihre Lippen, unablässig schmetterten unglaublich laut in meinem Kopf widerhallende, zusammenhangslose Konsonanten und Vokale auf mich ein, und ich verstand kein einziges Wort von dem, was sie sagte. Aus weiter Ferne erklang wieder »Lili Marleen« – und ich erkannte den Vers von vorhin wieder an seiner Melodie, schließlich hatte er sich geradezu in mein Hirn eingebrannt. Lilli Marleen, Solln wir uns da wiedersehn ... Immer wieder dieselben Worte, dieselben Takte, dieselbe Melodie.
    Vielleicht verlor ich deshalb den Verstand, weil ich mir den Schädel gebrochen hatte?
    Vom Fenster aus ließ sich der gepflasterte Hof vollständig überblicken. Der Vollmond war hinter dem tiefschwarzen Wolkenvorhang hervorgetreten (Vollmond? Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass kaum mehr als eine fadendünne Sichel am Nachthimmel zu sehen gewesen war, als wir Burg Crailsfelden erreicht hatten!) und tauchte die Giebel und Mauern der alten Festung in ein silbriges, blasses Licht, in dem jedoch irgendetwas verkehrt wirkte. Mein Blick wanderte irritiert zu den beiden Frauen und wieder hinaus in die Dunkelheit. Ich konnte sowohl die junge Ärztin als auch Judith in dem hell erleuchteten Raum in unmittelbarer Nähe vor mir nur verschwommen erkennen – die groben Steinquader, aus denen das Gebäude errichtet worden war, machte ich jedoch in aller Deutlichkeit aus, obgleich sie seltsam entrückt, fast wie aus einer anderen Welt, auf mich wirkten.
    Judith deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den zinnenbewehrten, alten Burgfried, den mächtigen Randturm, zu dem es keine Eingangstür mehr gab. Auf der obersten Plattform des Turms stand Maria. Sie war Dutzende von Metern weit entfernt, und es herrschte tiefste Nacht, und trotzdem konnte ich sie zweifelsfrei erkennen – mehr noch: Ich konnte jedes einzelne Detail an ihr ausmachen. Die Journalistin stand mit dem Rücken zu den Zinnen, presste sich gegen den kalten Stein, als fürchte sie sich vor irgendetwas, das aus der Falltür, die auf die Turmplatten führte, hinaufzusteigen drohte, als sei sie gerade in verzweifelter Angst vor etwas zurückgewichen, bis die fast schulterhohen Zinnen sie gebremst hatten. In der Hand hielt sie die kleine Pistole. Ein Schuss hallte über den Hof. Ich sollte Maria eigentlich nicht erkennen können in dieser Dunkelheit, sollte die Pistole in ihrer zitternden Hand schon aus meinem Blickwinkel heraus gar nicht erkennen können, und trotzdem konnte ich alles deutlich sehen.
    Dann legte sich ein Schleier über das Bild, und als er sich wieder lichtete, erkannte ich auf der Plattform nicht mehr Maria, sondern das dunkelhaarige Mädchen in dem bordeauxroten Kleid. Miriam! Und vom Himmel herab hingen wie Spinnweben schimmernde, hauchdünne Marionettenschnüre, an denen Maria geführt wurde und an denen sie in dieser Sekunde einen bizarren Tanz aus abgehackten Bewegungen vollführte, während wie von einem leiernden alten Grammophon gespielt »Lili Marleen« aus dem
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